Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Ein Euro mehr pro Stunde
Tarifrunde im Handel startet – Verdi wirft Branche Lohndumping vor und fordert mehr Gehalt
BERLIN - „Der Einzelhandel brummt, hat gute Erlöse und Gewinne. Zuletzt waren es über 20 Milliarden Euro Netto pro Jahr“, verkündet die Gewerkschaft Verdi. Deshalb fordert sie jetzt „deutlich mehr Geld“für die über drei Millionen Beschäftigten in dieser Branche. Am Mittwoch beginnt die Tarifrunde mit ersten Gesprächen in Baden-Württemberg. Einen Tag später folgt NRW. „Ich erwarte, dass die Arbeitgeber die Leistung der Handelsbeschäftigten in dieser Tarifrunde würdigen“, betont Stefanie Nutzenberger, im VerdiVorstand zuständig für den Handel. Im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“stellt sie fest: „Notwendig ist eine spürbare Reallohnsteigerung. Es muss deutlich mehr ankommen im Geldbeutel der Beschäftigten.“
Verdi fordert in den meisten Tarifgebieten eine Gehaltssteigerung von 6,5 Prozent, mindestens 163 Euro. In einigen Regionen heißt es plakativer, der Stundenlohn müsse um einen Euro steigen. Derzeit verdient eine Fachkraft im Handel nach sechs Jahren in einer Vollzeitstelle monatlich knapp 2600 Euro brutto. Das sind mehrere hundert Euro weniger als das Durchschnittsgehalt.
„Der Handel ist die Branche mit dem größten Risiko für Altersarmut“, kritisiert Nutzenberger. Sie stellt fest: „Weil Arbeitgeber zu niedrige Löhne zahlen, musste die Gesellschaft zuletzt über 1,45 Milliarden Euro aus der Staatskasse an Steuermitteln aufbringen, um Mini-Gehälter aufzustocken.“Diesem Geschäftsmodell des Lohndumpings müsse die Politik endlich einen Riegel vorschieben. Deshalb gehört zum Forderungspaket von Verdi für die diesjährige Tarifrunde im Handel auch die Aufforderung an die Arbeitgeber, gemeinsam beim jeweils zuständigen Landesarbeitsminister einen Antrag auf Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrages zu stellen. Wird dieser angenommen, müssen alle Einzelhändler die Mitarbeiter nach Tariflohn zahlen. „Eine solche Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) hat es zuletzt vor 19 Jahren gegeben“, berichtet Nutzenberger.
Seither bietet der Arbeitgeberverband HDE Firmen die Mitgliedschaft ohne Tarifbindung an. Fielen einst noch fast 70 Prozent der Beschäftigten unter den Tarifvertrag, sind es jetzt nur noch knapp 40 Prozent in Westdeutschland. Im Osten der Republik sind es weniger als 30 Prozent. Diese „Flucht der Arbeitgeber aus dem Tarifvertrag führt zu einer massiven Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und zu Lohndumping“.
Tarifstärkungsgesetz reiche nicht
Der Kampf um eine höhere Tarifbindung hat deshalb für die Gewerkschaft einen hohen Stellenwert. Nach Ansicht von Stefanie Nutzenberger ist hier auch der Gesetzgeber gefordert.
Denn das von Union und SPD in der letzten Legislaturperiode auf den Weg gebrachte Tarifstärkungsgesetz „hat nicht den gewünschten Erfolg gebracht“. Hier sei eine „gesetzliche Nachsteuerung notwendig“. Die Gewerkschaften im DGB fordern geringere Hürden für die AVE von Tarifverträgen.
Dies sei, so Nutzenberger, vor allem in Handel notwendig. Denn im Einzelhandel sowie dem Groß- und Außenhandel seien zusammen über fünf Millionen Menschen beschäftigt. Also deutlich mehr als in der meist mehr beachteten Metall- und Elektroindustrie. „Die Politik muss endlich die Größe und Bedeutung des Handels sowie die Situation von Millionen dort Beschäftigter zur Kenntnis nehmen“, verlangt Nutzenberger.