Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Er will es noch mal wissen
Cem Özdemir gilt als Top-Grüner, doch seine Kandidatur für die Fraktionsspitze ist umstritten
BERLIN - „Alles lief doch gerade gut“, heißt es bei vielen Grünen. Und dann kommt Cem Özdemir, sozusagen im Überraschungsangriff – einen Tag nach der grünen Fraktionsklausur in Weimar, bei der alles friedlich war und es ausgemacht schien, dass Anton Hofreiter und Katrin GöringEckardt die Fraktion weiter führen. Doch Cem Özdemir will es noch einmal wissen.
„Der hat doch gar keine Chance“, das war bei vielen die erste Reaktion, als sich der Schwabe Özdemir überraschend um die Fraktionsspitze bewarb, zusammen mit der Parteilinken Kirsten Kappert-Gonther. Die 52-jährige Psychotherapeutin aus Bremen war dort zwei Jahre lang stellvertretende Fraktionsvorsitzende in der Bürgerschaft. Im Bundestag sitzt sie erst seit zwei Jahren. Die Grünen brauchen laut Statut eine Frau und einen Mann an der Fraktionsspitze. Deshalb hätte der Realo Özdemir nicht gegen Göring-Eckardt, ebenfalls aus dem Realo-Lager, kandidieren können, weil im Erfolgsfall keine Frau mehr an der Fraktionsspitze wäre. Gleichzeitig wurde bisher in der Fraktion das Strickmuster „eins links, eins rechts“eingehalten, sodass eine Kombination Göring-Eckardt-Özdemir auch undenkbar wäre.
Das neue Duo Özdemir/KappertGonther bietet nun der Fraktion an, neuen Schwung zu bringen. Keine Frage, Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat an Rückhalt verloren. Sie steht zwar nach wie vor gut gelaunt für die grünen Ziele, die Leidenschaft aber scheint ihr zunehmend abhandengekommen zu sein. Anton Hofreiter wiederum brennt für grüne Politik, punktet aber in der Öffentlichkeit kaum, weil sein Auftreten als manchmal ungeschickt oder polternd empfunden wird.
Ganz anders Cem Özdemir. Er ist einer der wenigen Grünen, die weit nach außen strahlen, nicht nur in die grüne Gemeinde. „Den kenne ich“, sagt ein Passant freudig-überrascht in Weimar, als die Grünen-Fraktion tagt, „das ist der Özdemir, der macht eine richtig gute Politik“. Das würden zwar nicht alle Parteilinken ohne Weiteres unterschreiben, aber auch sie zollen dem 53-jährigen Politiker Respekt für seine Leistung: Der Sohn türkischer Gastarbeiter aus Bad Urach, der sich hoch kämpfte. Der „anatolische Schwabe“, wie er sich selbst nannte, war fast zehn Jahre lang Parteichef der Grünen, so lange wie kein anderer. Dabei hat er sich manches Mal aufgerieben, nicht zuletzt im Clinch mit seiner linken CoChefin Simone Peter. Er führte seine Partei als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl 2017 und galt als Minister gesetzt, falls es zu Jamaika gekommen wäre. Schon zuvor hatte er seinen Rückzug als Parteichef angekündigt, 2018 kam sein Nachfolger Robert Habeck.
Nach dem Scheitern von Jamaika sondierte Özdemir im vergangenen Jahr erstmals seine Chancen, Fraktionschef zu werden. Die waren gering, er entschied sich, nicht zu kandidieren. Diesmal ist er optimistisch.
Für Özdemir an der Fraktionsspitze spricht das Argument, dass er als Politiker sehr bekannt ist und viel Gewicht hat. Immer wieder ist er auf allen Kanälen zu sehen. Weniger als Vorsitzender des Verkehrsausschusses, sondern vielmehr als Experte zu Fragen der Außenpolitik, den Beziehungen zur Türkei, zum Rechtsextremismus oder Menschenrechtsfragen. Hier brilliert Özdemir. Im vergangenen Jahr führte er sogar die Beliebtheitsliste der deutschen Politiker an, unter den Top Ten war er fast immer. Kein Wunder, dass er sowohl als deutscher Außenminister gehandelt wurde als auch als möglicher Nachfolger von Baden-Württembergs grünem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann.
Angst vor tiefen Gräben
Trotzdem haben viele Fraktionsmitglieder Angst, dass Cem Özdemir wieder tiefere Gräben in der Fraktion aufreißen könnte. Schließlich haben die Grünen zurzeit eine Parteispitze, die gut zusammenarbeitet und harmoniert, und Gleiches gilt für die Fraktion. Sie arbeitet geräuschlos, ist dabei allerdings in den Medien auch ein wenig ins Hintertreffen geraten. Özdemir könnte der Fraktion wieder mehr Außenwirkung, Glanz und Gewicht verschaffen, das erhoffen sich die Realos, die ihn stützen. Aber er könnte auch für mehr Unruhe sorgen.
Er selbst hat in seinem Bewerbungsschreiben versprochen, „mit neuem Schwung Gegenpol zu einer schwachen Regierung“zu sein. Zusammen mit Kirsten Kappert-Gonther wolle er für die „Sichtbarkeit grüner Politik nach außen“und „als lebendiges Ideen und Kraftzentrum nach innen wirken“.
Die grüne Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat darauf indirekt in ihrer Bewerbung geantwortet. Manche forderten mehr Sichtbarkeit der Fraktion ein, das sei richtig für Konzepte. In der Spitze aber sehe sie das anders. „Toni und ich haben unsere Aufgabe immer so verstanden, die Fraktion gemeinsam aus der Mitte heraus zu führen.“Und auch Toni Hofreiter schreibt in seiner Bewerbung, er habe „seine Rolle als Vorsitzender gemeinsam mit Katrin immer so verstanden, den Zusammenhalt unserer Fraktion und der Grünen insgesamt zu wahren – auch wenn ein anderer Weg manchmal leichter und für die Medien auch interessanter gewesen wäre“. Auch das kann als kleiner Seitenhieb verstanden werden.
Die Abstimmung der Fraktion am Dienstag wird spannend. Keiner in der Fraktion wagt eine Prognose. Die Unterstützer Özdemirs hoffen auf seine Durchschlagskraft. Seine Kritiker meinen, das Langzeit-Hoch der Partei könne auch mit der internen Friedfertigkeit des Spitzenquartetts zu tun haben: Göring-Eckardt und Hofreiter überlassen Habeck und Baerbock bislang klaglos die Show. Özdemir müsste sich dazu schon zwingen.