Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Solidarität statt Wettbewerb
Immer mehr Unternehmen bieten Hilfe bei der Eindämmung des Coronavirus an
RAVENSBURG - In der Corona-Krise werden Unternehmen in Deutschland und weltweit vor massive Herausforderungen gestellt. Bei einigen bewirkt der Druck kreatives Umdenken: Quasi über Nacht basteln Firmen ihre Kompetenzen um, um Atemschutzmasken und andere Produkte für den Corona-Kampf herzustellen. Andere folgen Hilferufen aus der Politik, die um Unterstützung etwa bei der Produktion dringend benötigter Beatmungsgeräte bat. Oftmals geht es gar nicht darum, einen finanziellen Vorteil zu erzielen – es geht darum, Unterstützung und Hoffnung zu geben.
So wie beim Hersteller von Bediensystemen Rafi aus Berg (Landkreis Ravensburg). Das Unternehmen fertigt Taster, Schalter, Joysticks und Touchscreens unter anderem für Hersteller von Beatmungsgeräten. „Mitte März haben wir Sozialminister Manfred Lucha angeboten, dass Rafi bei Lieferengpässen bereitsteht auszuhelfen“, sagt Geschäftsführer Lothar Seybold. Seitdem steht der Manager mit dem Staatsministerium in Stuttgart im Austausch. Parallel dazu hat Rafi Hersteller wie die Lübecker Firma Drägerwerk kontaktiert, die aktuell einen Auftrag der Bundesregierung über 10 000 Beatmungsgeräte abarbeitet.
Dass die Branche an der Kapazitätsgrenze arbeitet sieht Seybold am Bestellverhalten seiner Kunden wie den Schweizer Hersteller Hamilton Medical oder das rheinland-pfälzische Unternehmen Fritz Stephan, denen Rafi Touchscreens für Beatmungsgeräte liefert. Deren Bestellungen sind in den vergangenen Wochen explodiert. Mehrere Tausend zusätzliche Geräte soll Rafi binnen fünf Monaten liefern. Durch die hohe Fertigungstiefe im eigenen Haus und entsprechend überschaubarer Lieferketten glaubt Seybold, das auch stemmen zu können. Ausnutzen will er den Nachfrageschub gleichwohl nicht: „Wir haben unsere Preise nicht erhöht. Einzig die im Zuge der Corona-Krise gestiegenen Logistikkosten reichen wir an unsere Kunden weiter“, sagt Seybold.
Auch die Markdorfer Firma Wagner bietet ihre Hilfe in der Pandemiebekämpfung an. Der Spezialist für Lackieranlagen aus dem Bodenseekreis reagierte bereits im Februar auf den Aufruf der Weltgesundheitsorganisation, gegen die Ausbreitung der Pandemie anzugehen und Infektionsketten zu unterbrechen. Wagner bietet Sprühgeräte, mit denen nicht wie üblich Lacke sondern verschiedenste Desinfektionsmittel großflächig bis in kleinste Ritzen versprüht werden können. „Aktuell testen die Hygieneverantwortlichen im Klinikum Friedrichshafen unsere Geräte“, sagt Tanja-Christina Musik, in den USA seien die Geräte schon seit einigen Tagen im Einsatz.
„Wir sehen in der Wirtschaft schon jetzt ein großes Interesse, bei der Eindämmung des Virus zu helfen“, sagte der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks der „FAZ“. Allerdings hapert es oftmals an der Koordination. Hilfsangebote kommen mitunter nicht da an, wo sie gebraucht werden. Für Baden-Württemberg gilt das gleichwohl nicht. Der Südwesten zeigt, wie es laufen kann. Hier wurde das zentrale Management aller Hilfsangebote der Landesagentur Biopro übertragen, die ein enges Netzwerk in der Gesundheits- und Medizintechnikbranche pflegt. Biopro fragt systematisch ab, wo welche Art von Unterstützung nötig ist. Gleichzeitig wird in Kooperation mit verschiedenen Akteuren gesammelt, was es an Hilferufen und Angeboten gibt.
Seit einer Woche arbeitet Biopro als Koordinationsschnittstelle. „Wir bekommen sehr viele Angebote, mehrere Hundert bis dato – vor allem für Beatmungsgeräte oder Teile dafür sowie für Gesichtsmasken“, sagt eine Biopro-Sprecherin. Was von diesen Angeboten dann auch tatsächlich in die Produktion geht, sei zum jetzigen Zeitpunkt aber noch schwer zu sagen. Längst nicht alle Angebote, die bei Biopro eingehen, haben etwas mit der Gesundheitsund Medizintechnikbranche zu tun. „Es melden sich auch Bürger, die einfach nur helfen wollen, oder Firmen aus der IT-Branche und dem Handwerk“, bestätigt die Sprecherin.
Auch diese Angebote werden aufgenommen. Im Kampf gegen die Coronaviren sind sie vielleicht irgendwo und irgendwann ebenfalls gefragt. So wie die Plexiglas-Einhausungen, die inzwischen überall an den Kassen von Supermärkten zu sehen sind oder Schutzvorhänge in Bäckereien und Metzgereien. Letztere hat die Firma May aus Betzenweiler (Landkreis Biberach) kurzerhand ins Programm genommen – eigentlich produziert das Familienunternehmen Sonnenschirme für Privat- und Gewerbekunden. Und Plexiglas-Schutzwände kommen jetzt unter anderem vom Ladenbauer Konrad Knoblauch aus Markdorf. „Wir sind kurz vor der Auslieferung an Kommunen und eine große Einzelhandelskette“, sagt Firmensprecherin Julio Kohler.
Das Unternehmen mit seinen 250 Mitarbeitern richtet normalerweise Einzelhändlern, Hotels und Gastronomiebetrieben ihre Geschäfte ein.
Doch Zehntausende sind seit Tagen geschlossen, bei nicht wenigen steht die Existenz auf dem Spiel. Neu- und Umbauprojekte werden deshalb vielerorts auf Eis gelegt, mitunter stoppen einzelne Kunden sogar ihre Zahlungen für Leistungen, die bereits erbracht wurden.
Bislang sind alle Initiativen der Unternehmen freiwillig. Anders als in den Vereinigten Staaten, wo Präsident Donald Trump auf Basis des Defence Production Act, ein USBundesgesetz aus dem Jahr 1950, die Produktion von Beatmungsgeräten angeordnet hat, dürfte das hierzulande auch so bleiben. „Das steht nicht zur Diskussion“, hieß es vergangene Woche aus dem Staatsministerium in Stuttgart.
In Bayern hat Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gemäß Bayerischem Katastrophenschutzgesetz schon vor drei Wochen den Katastrophenfall festgestellt. Damit ist die Staatsregierung in München berechtigt, Unternehmen zur Produktion bestimmter als unbedingt notwendig erachteter Güter zu verpflichten. Solche Schritte seien momentan aber nicht geplant, ließ Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) verlauten. Die Unterstützung seitens der bayerischen Wirtschaft sei groß.