Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Die Hoffnung und die Dunkelziffer
Die offiziellen Zahlen von Neuinfektionen in Spanien gehen zurück, doch es gibt auch einen Mangel an Tests
MADRID - Es sind dramatische Szenen, die sich in Spaniens Hauptstadt Madrid abspielen: Menschen liegen in den überfüllten Notaufnahmen der Krankenhäuser auf dem Boden. In den Leichenhäusern stapeln sich Hunderte Särge, in denen Todesopfer der Corona-Epidemie ruhen. Spanien hat Italien als Corona-Epizentrum abgelöst.
Noch vor einem Monat schaute die Regierung mitleidig auf Italien, wo die Zahl der Corona-Kranken damals bereits in die Tausende ging. Am 8. März, als in Italien die am stärksten betroffene Lombardei-Region abgeriegelt wurde, gab es in Spanien auch schon 600 Fälle. Aber der spanische Gesundheitsminister Salvador Illa versicherte, dass das Land gut vorbereitet sei. Illa: „Wir können die Ausbreitung des Virus im Zaum halten.“
Spaniens Regierung fühlte sich zu diesem Zeitpunkt noch so sicher, dass sie sogar noch mehrere Großveranstaltungen in Madrid genehmigte. Wenig später explodierten die Infektionszahlen. Innerhalb von zwei Tagen verdreifachten sich die Corona-Fälle. Die Hauptstadt wurde über Nacht zum Epidemie-Brennpunkt. Von dort verbreitete sich das Virus im ganzen Land.
Inzwischen hat Spanien bei den Krankheitsfällen Italien als Europas Corona-Epizentrum abgelöst: Nach der amtlichen Statistik wurden bis Sonntag insgesamt mehr als 130 700 Infizierte registriert – auch wenn die Infektionskurve in Spanien langsam abzuflachen scheint. Die Zuwachsrate sank am Sonntag auf fünf Prozent. Dennoch kletterte die Zahl der Toten landesweit weiter auf 12 418; mehr als zwei Drittel der Todesopfer sind älter als 80. In einigen Seniorenresidenzen im Land verschieden seit Ausbruch der Epidemie nahezu ein
Drittel der Bewohner. „Wenn das Virus einmal in einem Heim wütet, ist es sehr schwer, die Verbreitung zu stoppen“, sagt ein Behördensprecher. Wie viele Heimbewohner bisher dem Virus zum Opfer fielen, weiß niemand genau. Sicher ist nur, dass es viele Tausend sind.
„Eine Katastrophe“, sagt Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez, der angesichts der tragischen Corona-Entwicklung verkündete, dass die nationale Ausgangssperre bis zum 25. April verlängert wird. Es ist eine Situation, auf die Spanien nicht ausreichend vorbereitet war. In der Region Madrid sterben derzeit jeden Tag 300 Menschen an dem Virus. Bis zu diesem Sonntag wurden in Madrid 4950 Todesopfer und 37 600 Infizierte gemeldet. Die statistische Sterberate in der Hauptstadt liegt mit weit über zehn Prozent höher als in der italienischen Lombardei oder in der chinesischen Provinz Hubei. Die offiziellen Angaben in Spanien sind vermutlich nur die Spitze des Eisberges: „Es ist sehr wahrscheinlich, dass die wirkliche Zahl der infizierten Personen zehn Mal höher ist als die amtlichen Zahlen“, sagt der Epidemie-Forscher Daniel LópezAcuña. Gibt es also statt der rund 131 000 bestätigten Fälle schon mehr als eine Million Corona-Kranke in Spanien? Vieles spricht dafür: Etwa der große Mangel an Testmöglichkeiten in Spanien. Was dazu führt, dass nur bei jenen schwereren Infektionen,
die einen Krankenhausaufenthalt notwendig machen, getestet wird. Patienten, die lediglich leichte Covid-19-Symptome haben, was erfahrungsgemäß bei den meisten Erkrankungen der Fall ist, werden weder getestet noch mitgezählt.
Die Laborkapazitäten sind so gering, dass nicht einmal bei allen Risikopersonen ein Test gemacht werden kann. Darunter leiden vor allem Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, die in vorderster Front in Hospitälern und Altenheimen gegen das Virus kämpfen. Und die, wenn sie selbst nicht wissen, ob sie Virusträger sind, andere Menschen anstecken können.
Auch mangelt es dem medizinischen Personal an Gesichtsmasken und virusresistenten Kitteln. „Die Krankenschwestern müssen sich Kittel aus Mülltüten und Schutzmasken aus Plastik-Schnellheftern basteln“, berichtet Florentino Pérez Raya, Chef des nationalen Pflegeverbandes. Das hat fatale Folgen: Immer mehr Mitarbeiter stecken sich an. Rund 15 Prozent aller Infizierten in Spanien – deutlich mehr als in Italien oder China – sind Ärzte und Krankenschwestern.
In vielen Spitälern spielen sich zudem Tragödien ab, weil es nicht genügend Intensivbetten gibt. Längst werden auf den Intensivstationen in Madrid und in Barcelona, wo die Lage am schlimmsten ist, die Regeln der Kriegsmedizin angewendet. Und diese Regeln besagen, dass bei Überlastung der Stationen die Patienten mit den besseren Überlebenschancen Vorrang haben. Die Verlierer dabei sind vor allem die alten und gebrechlichen Kranken in den Seniorenheimen, in denen das Coronavirus besonders schlimm wütet. Oftmals kommt nicht einmal mehr der Krankenwagen, wenn in einem Altenheim der Notruf gewählt wird.