Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Knapp einer Katastrophe entronnen
Vor 75 Jahren endete in Leutkirch der Zweite Weltkrieg – ohne Sprengung der „Muna“
LEUTKIRCH - Am 8. Mai jährt sich zum 75. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges. Für Leutkirch war dies schon am 28. April 1945 mit dem Einmarsch französischer Truppen der Fall. Die letzten Kriegstage in der Allgäustadt und der Region waren geprägt von teils unklaren, chaotischen und höchst gefährlichen Verhältnissen, in denen sich Tragödien und blinder Fanatismus, aber auch Mut zum Widerstand und selbstlose Zivilcourage abspielten.
Völlig unbekannt war der Bevölkerung, dass sie einer immensen Katastrophe entgangen war: Es galt nämlich der Befehl, die Heeresmunitionsanstalt Urlau (Muna) zu sprengen. Dort lagerten im April 1945 neben 20 000 Tonnen herkömmlicher Munition auch 10 000 Tonnen Kampfstoffe – Granaten mit tödlichen Giftgasen.
Anfang April 1945 gelang es der französischen Ersten Armee unter General Jean de Lattre de Tassigny, den Rhein zu überqueren. Es waren Truppen, die sich erst nach der Befreiung Frankreichs von der deutschen Besatzung konstituieren konnten, vorwiegend ehemalige Widerstandskämpfer und Einheiten aus französischen Kolonien (Marokko, Algerien), die mit amerikanischem Material ausgestattet wurden. In den folgenden Aprilwochen lieferten sich Franzosen und Amerikaner einen regelrechten Wettlauf in der Einnahme Süddeutschlands – auch mit dem Ziel, die Besetzung Vorarlbergs durch die Russen zu verhindern. Die im Süden liegende 19. Deutsche Armee und das XVIII. SS-Armeekorps stellten sich zwar dem alliierten Vorrücken entgegen, wurden aber zurückgedrängt und befanden sich zunehmend im Auflösungszustand. Flüchtlinge, versprengte Wehrmachtseinheiten, Parteifunktionäre, Gestapo, SS-Einheiten strömten zurück nach Westen und nach Süden Richtung Schweiz und „Alpenfestung“.
Die Städte und Gemeinden waren überfüllt mit „buntem Volk“, auch in Leutkirch. Dr. Josef Notheis, damals Redaktionsleiter der „Schwäbischen Zeitung“, berichtet hierzu in seinen Aufzeichnungen: „Am Montag, 23. April, waren ganze Kolonnen unterwegs, Arbeitssoldaten, Fußtruppen, meist ganz junge Soldaten, vermischt mit alten, zum Teil ergrauten Semestern, die sich fortschleppten. An der Eschachbrücke beim Gasthaus Mohren hatte sich ein General postiert und suchte aus den Versprengten wieder kampffähige Gruppen zu bilden. SS und Volkssturm kontrollierten in Gastwirtschaften und an Straßenkreuzungen die passierenden Soldaten.“
Über denselben Tag schreibt der Urlauer Pfarrer August Willburger in seiner Pfarrchronik: „Gerüchte, dass die Muna in die Luft gesprengt werden soll. Der blinde Alarm verursachte bei vielen den reinsten ‚tollen Montag’, zahlreiche (Weibs)leute zogen mit Koffern und Kinderwagen über die Eschach auf den Berg.“Dass die Heeresmunitionsanstalt, und mit ihr ein teuflisches Arsenal an Kampfstoffen, nicht in die Luft gejagt wurde, ist dem damaligen Kommandanten, Major Günther Zöller, zu verdanken. Unterstützt durch Pfarrer Willburger und mit Arzt und Chemiker Dr. Friedrich Jung an seiner Seite, gelang es Zöller, den Befehl zur Sprengung immer wieder zu verschleppen und zu verschieben. Zöller musste mit dieser Hinhaltetaktik an Leib und Leben fürchten.
Große Gefahr drohte ihm aus nächster Nähe von Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Wilhelm Murr, der sich im Kißlegger Schloss befand und Zöller mit dem „Werwolf“drohte, sollte er nicht augenblicklich sprengen. Unter diesen Umständen wurde die Ankunft der Alliierten mehr als eine Befreiung vom Nationalsozialismus empfunden, vom Kriegsende hing das Schicksal einer ganzen Region ab.
Am Dienstag, 24. April, erreichten die Franzosen Biberach – sie blieben dort, der Vormarsch der Bodentruppen geriet ins Stocken. Französische Flieger setzten indessen ihre Flüge ins „feindliche Hinterland“fort. In Urlau schossen sie mit Brandmunition drei Häuser in Flammen. Dort parkende Militärwagen hatten die Aufmerksamkeit der Piloten auf sich gezogen, denen auch acht Panzersperren, die in Leutkirchs Innenstadt errichtet worden waren, nicht entgangen sein dürften. Diese zeigten: Leutkirch sollte verteidigt werden.
Solchem Widerstand begegneten die Alliierten grundsätzlich mit massivem Beschuss und Zerstörung. Angesichts dieser Gefahr zog am Mittwoch, 25. April, eine Gruppe Leutkircher Bürger zum Rathaus. Sie forderten von Bürgermeister Reichert und von Ortsgruppenleiter Maigler die Öffnung der Sperren. Diese redeten sich auf einen Kompetenzstreit zwischen Wehrmacht, Partei und Verwaltung heraus, wichen einer Entscheidung aus und versuchten, Zeit zu gewinnen. Am selben Tag veranlasste Zöller die Räumung der Muna und entließ Personal und Kriegsgefangene. Erneut wurde zum Schein die Sprengung angesagt – zunächst für 13 Uhr, dann „nicht vor 16.30 Uhr“. „Ernst wurde es nicht“, heißt es in der Pfarrchronik von Pfarrer Willburger.
Am Donnerstag, 26. April, erfolgte um 8.15 Uhr ein Tieffliegerangriff auf das Leutkircher Bahngelände, bei dem ein Koch und eine Frau im dort stehenden Reichsbahndirektionszug getötet wurden. Eine weitere Tragödie ereignete sich nachmittags in einem Waldstück zwischen Bauhofen und Diepoldshofen: Hauptmann Otto Siebler, Kommandeur des beweglichen Heeresgefängnisses der 19. Deutschen Armee, der sich seit dem 24. April mit 120 Gefangenen und 30 Bewachern in der Grössermühle aufhielt, befahl, trotz des nahen Kriegsendes, die Vollstreckung gefällter Todesurteile. 15 deutsche Soldaten wurden daraufhin in den Wald geführt, in Paaren an Bäume gebunden und erschossen. Ein Soldat konnte rechtzeitig fliehen.
Der letzte Kriegstag, Freitag, 27. April, ging als „schwarzer Freitag“in die Stadtgeschichte ein. Bereits in der Nacht hatten mutige Bürger, unterstützt durch Frauen und Jugendliche, begonnen, die Panzersperren abzubauen, ein lebensgefährliches Unterfangen. Bei Tagesanbruch zog Militär in die Stadt ein. Es waren die Reste der motorisierten Volksgrenadierdivision 257 mit zwei Kompanien. Diese setzten sich weiter ab in Richtung Reutte, wohin sich inzwischen auch das AOK 19 (Armee Oberkommando) zurückgezogen hatte. Gegen 9.30 Uhr waren die Untere Vorstadt und die Panzersperren Ziele der Angriffe von zwei Mal je zwölf Tieffliegern. Sechs Todesopfer waren zu beklagen. Ein Bauernhof ging in Flammen auf, mehrere Häuser wurden beschädigt.
Als Ruhe einkehrte, wurde der Abbau der Panzersperren fortgesetzt. Dann, um die Mittagszeit, tauchte unvorhergesehen ein 35 Mann starkes Kommando der „Kampfgruppe Bauer“(SS) auf und schoss ohne Vorwarnung auf die mit dem Abbau der Panzersperre beim „Weißen Ochsen“(Anm.: heute Sai Thai) beschäftigten Personen.
Dabei wurden Schreinermeister Josef Lutz und Postschaffner Michael Maischberger getötet. Bei der anschließenden Verhaftungswelle wurden „verdächtige Personen“festgenommen. Vielen drohte der „kurze Prozess“, glücklicherweise setzte sich das SS-Kommando alsbald in Richtung Neuravensburg ab.
Am Samstag, 28. April 1945, läutete am späten Vormittag im Leutkircher Rathaus das Telefon. Am anderen Ende der Leitung war ein Befehlshaber der französischen Truppen, der die Übergabebedingungen nannte: Sämtliche Häuser und Türme seien mit weißen Fahnen zu beflaggen und alle Sperren müssten beseitigt sein. Leutkirch glich einer Geisterstadt. Die Straßen waren leer, die Menschen hielten sich in den Häusern auf. Um 14 Uhr hieß es: „Die Franzosen kommen!“Eine Panzerkolonne bewegte sich aus Richtung Reichenhofen auf Leutkirch zu. Gegen 14.30 Uhr war es soweit, die Stadt wurde kampflos an die Franzosen übergeben.
Damit war auch der Zeitpunkt für Günther Zöller für die Übergabe der Heeresmunitionsanstalt gekommen: Ausgestattet mit einer weißen Fahne fuhren die Parlamentäre Dr. Jung und Sanitätsunteroffizier Josef Fessler auf dem Fahrrad nach Leutkirch. An der Strauß-Brücke stießen sie auf Marokkaner, die ihnen als erstes die Uhren abnahmen.
Um 16 Uhr konnte dann auch die Muna unversehrt an die französischen Truppen en übergeben werden. Die unmittelbare Gefahr, die von diesem Ort ausging, war vorerst gebannt. In Leutkirch hatte die „Stunde Null“und eine neue Zeitrechnung begonnen.