Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Die Welt lernt aus Wirtschaftskrisen
Instrumente wie Kurzarbeit entstanden infolge früherer Finanzcrashs – Helfen die Mittel jetzt in der Corona-Zeit?
BERLIN - Wenn die Bundesagentur für Arbeit (BA) am Donnerstag die Arbeitslosenzahlen bekannt gibt, zeigt sich das wirtschaftliche Ausmaß der Corona-Krise erstmals auf dem Arbeitsmarkt. Nach solch tief greifenden Einschnitten wie dem derzeitigen hat die Politik in der Vergangenheit oft neue Ideen für die Beschäftigten entwickelt, um der Krise Herr zu werden.
Ohne einen wirtschaftlichen Schock würde es beispielsweise die Kranken- und Rentenversicherung in Deutschland vielleicht gar nicht geben. 1873 brach nach zweijährigem Boom infolge französischer Reparationszahlungen, nach dem 1871 gewonnenen Krieg gegen das Nachbarland, die Wirtschaft zusammen. Es waren die Gründerjahre. Hunderte Aktiengesellschaften wurden gegründet, bis am Ende eine gewaltige Spekulationsblase platzte und Pleiten, Not und Arbeitslosigkeit über das Land streute. Eine Folge war eine Auswanderungswelle der verarmten Arbeiterschaft und die sich im konservativen Kaiserreich allmählich durchsetzende Erkenntnis, dass der soziale Friede etwas wert ist. 1889 wurde deshalb die Renten-, Krankenund Unfallversicherung für die Arbeitnehmer eingeführt.
„So einschneidende Krisen hatten immer einen Einfluss auf das Denken der Menschen“, sagt Arbeitsmarktforscher Alexander Herzog-Stein vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung, „das Bestehende wird infrage gestellt und neue Antworten dafür gesucht.“Auch die krisengeschüttelte Weimarer
Republik suchte nach Vorschlägen, wie Jobs erhalten werden können, wenn es den Unternehmen schlecht geht. Gerade noch rechtzeitig vor der größten Weltwirtschaftskrise führte Deutschland 1927 das Kurzarbeitergeld ein.
Im Oktober 1929 kam es dann zu einem massiven Börsencrash: Innerhalb weniger Stunden verpufften Milliarden US-Dollar an der Wall Street. Dem Börsencrash vorausgegangen war ein großer Wirtschaftsboom in den 1920er-Jahren. Die Menschen glaubten, der Aufschwung der Wirtschaft würde dauerhaft anhalten. Das führte zu umfassenden Aktienspekulationen. Immer mehr Menschen beteiligten sich an den Geschäften des Aktienmarktes. Doch viele finanzierten die Börsengeschäfte mit Krediten, die sie häufig basierend auf überbewerteten Sicherheiten erhalten hatten. Im Oktober platzte dann diese Blase und es begann ein Flächenbrand, der sich schnell über die ganze Welt ausbreitete.
Die Regierung in Berlin setzte auf eine harte Sparpolitik und den Abbau von Sozialleistungen, was die Krise nur noch verschärfte. Die Arbeitslosigkeit lag Ende 1932 bei mehr
ANZEIGE als acht Millionen. Rund drei Millionen Kurzarbeitern blieben wenigstens ihre Arbeitsstellen. Die USA und Deutschland zogen sehr unterschiedliche Schlüsse aus der Katastrophe. Deutschland setzte auf Nationalismus und am Ende Krieg. Die USA übernahmen die Ideen des Wissenschaftlers John Maynard Keynes und kurbelten mit schuldenfinanzierten staatlichen Investitionen ihre Wirtschaft wieder an.
Der Lerneffekt ist unverkennbar. In der Finanzkrise vor zehn Jahren hat Deutschland massiv auf Kurzarbeit gesetzt und stand damit allein. „In der derzeitigen Krise setzen viele Länder auf Kurzarbeit“, beobachtet Ulrich Walwei, Vizechef des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Auch staatliche Konjunkturprogramme gehören längst weltweit zum Instrumentarium bei der Bewältigung von Krisen.
Die Ursachen der Weltwirtschaftskrisen waren unterschiedlich und neben dem Auslöser, einem Börsencrash, Krieg oder eben einer Pandemie, gab es weitere Faktoren. „Die Ölkrise 1973 fiel zum Beispiel mit dem Ende des Nachkriegsaufschwungs zusammen“, erläutert Herzog-Stein. Die spannende Frage sei, ob Trendumbrüche vom Schock überlagert werden. Von einer Krise auf alle folgenden zu schließen und eine Standardstrategie dagegen zu entwickeln, sei somit nicht möglich. „Alle haben einen eigenen Charakter, eigene Konsequenzen und Reichweiten“, sagt Walwei.
Auch aus der Corona-Krise wird zu lernen sein. Noch weiß niemand, wie tief die Spuren am Arbeitsmarkt sein werden und wann und in welchem Tempo es wieder besser wird. Aber Schwächen in der Arbeitsmarktpolitik sind schon sichtbar. „Der Dienstleistungssektor ist nun extrem betroffen“, betont HerzogStein, „für die Beschäftigten dort passen die Instrumente wie Kurzarbeit nicht richtig, weil das Lohnniveau zu gering ist.“
IAB-Forscher Walwei sieht Bedarf an einer besseren sozialen Sicherung der Geringverdiener. Soloselbstständige sollten in die Arbeitslosenversicherung aufgenommen werden und die Sozialpartnerschaft wieder belebt werden.