Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Cannes will Teil der Genesung sein“
Thierry Frémaux spricht über die Zusammenarbeit mit dem Festival in Venedig und einen digitalen Filmmarkt
BERLIN/CANNES (dpa) - Keine Filmstars, kein roter Teppich, keine Premieren: Normalerweise würde Thierry Frémaux in diesen Tagen Filmstars aus der ganzen Welt beim Festival in Cannes begrüßen. Doch jetzt, in Zeiten von Corona, muss sich der künstlerische Leiter eines der bedeutendsten internationeln Filmfestivals neuen Herausforderungen stellen. Im Interview mit Aliki Nassoufis erläutert der 59-Jährige, welche Ideen er nun für das Festival hat.
Privileg, ein Festivalbesucher zu sein, es ist ein großes Privileg, es zu führen. Aber man muss vernünftig und kämpferisch zugleich sein. Was ich am meisten vermissen werde, sind die Vorführungen, die Kontakte zu den Künstlern, das Urteil der Presse, der Applaus, die Gerüchte, die Diskussionen, die Streitigkeiten, kurz gesagt, das Kino!
Was bedeutet Ihrer Meinung nach die derzeitige Situation für die Filmindustrie weltweit?
Ich denke, dass diese globale Epidemie, die niemanden verschont hat, die Veränderung der Welt beschleunigen wird und die des Kinos. Persönlich, als Bürger, würde ich mir wünschen, dass es ein echtes Bewusstsein gibt, vor allem in ökologischen und Klima-Fragen. Wir konnten die Wirtschaft durch ein Virus zerstören. Wir fordern nicht, dasselbe wegen des Klimas oder der Kriege und des Hungers in der Welt zu tun, aber wir können es besser machen. Wir können mehr tun, nicht wahr? Das Kino befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel, wir müssen diese Krise nutzen, um der Zukunft zu begegnen. Die Behauptung, dass das Kino tot ist, ist nicht neu, aber wir wissen ganz genau, dass sie nicht wahr ist. Medien sprechen zwar lieber über (Streaming-)Plattformen, und das ist auch alles sehr gut, weil sie überall ein Hit sind. Aber die Kinos sind geschlossen. Stellen wir uns doch für eine Sekunde die gegenteilige Situation vor: Ein Computervirus legt alle Bildschirme lahm. Dann würden die Leute sofort in die Kinos eilen, wir hätten wieder die 450 Millionen Zuschauer von 1947 und sogar noch mehr! Was wir nun aber sehen ist leider das Gegenteil: Das Kino ist „geschlossen“und die Streamingplattformen reißen die Szene an sich. Nach dem wunderschönen Jahrgang 2019 hat das Kino das nicht verdient, ausgerechnet in seinem 125. Jubiläumsjahr! Aber es wird noch stärker zurückkommen. Wir sehen uns 2021 in Cannes.