Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Der Krieg des Friedensnobelpreisträgers
Äthiopiens Ministerpräsident geht mit Luft- und Bodentruppen gegen die eigenen Bürger vor
BERLIN - 2019 erhielt er den Friedensnobelpreis, jetzt führt er Krieg im eigenen Land. Mit einer großen Militäroffensive geht Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed gegen die abtrünnige Provinz Tigray vor. Hunderte sollen gestorben sein, Zehntausende flohen vor den Kämpfen, es droht eine humanitäre Katastrophe. Der Bürgerkrieg könnte sich schnell auf weitere Landesteile ausweiten und das ganze Horn von Afrika weiter destabilisieren.
Als Abiy am 2. April 2018 zum Regierungschef ernannt wurde, überraschte der bis dahin loyale Funktionär des seit 1991 regierenden repressiven Systems Äthiopien und die Welt mit einem atemberaubenden Reformtempo. Der jüngste Regierungschef Afrikas ließ Tausende von politischen Gefangenen und Journalisten frei, besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen, begeisterte sein Volk mit einer Rhetorik von Liebe und Versöhnung – und beendete nach über 18 Jahren den Krieg mit Nachbarland Eritrea. Dem Konflikt waren bis zu 100 000 Menschen zum Opfer gefallen, Abiy selbst hatte im Krieg als Soldat feindliche Stellungen ausgespäht.
Im mit rund 110 Millionen Einwohnern zweitbevölkerungsreichsten Staat Afrikas brach eine regelrechte Abiy-Mania aus. Doch Äthiopien befindet sich seit Anfang November im Bürgerkrieg. Seitdem Abiy regiert, hat die ethnisch motivierte Gewalt im Vielvölkerstaat Äthiopien mit über 80 Ethnien zugenommen, immer wieder kommt es zu Massakern und Toten, rund drei Millionen Äthiopier sind so zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden.
Der Konflikt zwischen Abiy und der Regionalregierung in Tigray schwelt bereits seit dessen Amtsübernahme vor zweieinhalb Jahren. Denn: Abiy Ahmed will in Äthiopien den Zentralstaat stärken und die in der Verfassung verankerte Autonomie der ethnisch geprägten Regionen schwächen. Dies stieß vor allem in der nördlichen Region Tigray auf erbitterten Widerstand. Denn Tigray hatte 1991 beim Sturz des kommunistischen Diktators Mengistu Haile Mariam eine wesentliche Rolle gespielt und deshalb bis zum Amtsantritt Abiys in ganz Äthiopien übermäßig großen politischen Einfluss.
Um das Land zu einen, hatte Abiy eine Einheitsregierung gebildet, der die Partei „Volksbefreiungsfront von Tigray“(TPLF) jedoch nicht beitrat. Als Abiy im Frühjahr wegen des Coronavirus
geplante Wahlen verschieben ließ, hielt Tigray im September gegen den Willen der Regierung in Addis Abeba Wahlen in der nördlichen Region durch. Die TPLF soll dabei mehr als 98 Prozent der Stimmen erhalten haben. Die Zentralregierung erkannte das Ergebnis nicht an.
Anfang November setzte Abiy die Regierung in Tigray ab. Nach Angaben der Regierung in Addis Abeba überfiel die TPLF daraufhin einen Stützpunkt der Armee und gelangte so in den Besitz schwerer Waffen. Der Bürgerkrieg brach aus.
Abiy, der für seinen Einsatz für den Frieden und die Beilegung des Grenzkonfliktes mit dem Nachbarland Eritrea mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, befahl der Armee Stellungen der Aufständischen aus der Luft und mit Bodentruppen anzugreifen. Mittlerweile wird nicht nur in Äthiopien gekämpft. Weil sie Eritrea vorwirft, die Regierung in Addis Abeba zu unterstützen, griff die TPLF Ende letzter Woche auch den Flughafen in Asmara, der Hauptstadt des angrenzen Eritreas, an.
Am Dienstag kündigte er auf Facebook eine „finale Militäroffensive“an. Auf Twitter und in Fernsehansprachen berichtet Abiy, dass die äthiopische Armee große Teile Tigrays „befreit“habe und große Bodengewinne mache. Unabhängig bestätigen lassen sich die Berichte nicht. Über Tigray wurde der Ausnahmezustand verhängt, Internet- und Telefonverbindungen wurden gekappt, Straßen abgeriegelt, Journalisten und unabhängigen Beobachtern wird der Zugang zum Kriegsgebiet verwehrt. Es ist jedoch davon auszugehen, dass es unter
Soldaten und Milizen und der Zivilbevölkerung Hunderte Tote gegeben hat.
Ob die Zentralregierung den Krieg schnell für sich entscheiden kann, ist offen. „Die TPFL soll in der Lage sein, in kurzer Zeit 250 000 Kämpfer zu mobilisieren. Das sind mehr Soldaten als der Rest der äthiopischen Armee zur Verfügung hat. Die Soldaten der TPLF sind kampferfahren, gut ausgerüstet und ausgebildet, hochmotiviert und kennen sich im gebirgigen Tigray bestens aus“, sagt Annette Weber, Äthiopien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie befürchtet, dass es der TPFL gelingen kann, die Regierung in Addis Abeba in einen zermürbenden Guerillakrieg zu verwickeln. „Im Worst-Case-Szenario versinkt ganz Äthiopien im Bürgerkrieg. Dann gibt es viele Tausend Tote. Auch die Nachbarländer Sudan, Eritrea und Somalia könnten weiter destabilisiert werden“, so Weber.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtete in der vergangenen Woche von einem Massaker an Zivilisten in der tigrinischen Stadt Stadt Mai-Kadra. Laut der Zentralregierung, haben lokale Milizionären der TPLF dort rund 500 zumeist nichttigrinische Arbeiter auch mit Messern und Macheten getötet. Tigray hingegen wirft der äthiopischen Armee vor, das Massaker mit Milizionären aus der angrenzenden Amhara-Region verübt zu haben.
Schon bald könnte der Krieg zu einer humanitären Katastrophe führen. Denn im trockenen und gebirgigen Tigray waren schon vor Beginn des Krieges 600 000 Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.