Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
WM der Totschläger oder ganz fantastisches Turnier?
Der Internationale Eishockeyverband berät darüber, ob Minsk kommenden Mai noch Gastgeber neben Riga sein soll
MINSK - Einer der maskierten Athleten schrie: „Warum reißt du das Maul auf?“Dann schlug er zu. Nach Angaben des weißrussischen Nachrichtenportals tut.by flog sein Opfer Roman Bondarenko mit dem Kopf gegen eine Kinderrutschbahn, die Angreifer schleppten ihn in einen Kleinbus. Zwei Stunden später kam Bondarenko mit schweren Kopfverletzungen auf die Intensivstation eines Minsker Krankenhauses. Dort starb der 31-Jährige vergangenen Mittwoch.
Acht Tage später will das Exekutivkomitee des Eishockey-Weltverbandes IIHF darüber beraten, ob die WM im kommenden Mai wie geplant in Minsk stattfinden kann. Die Hauptstadt Weißrusslands steht als Ausrichtungsort infrage: Seit Anfang August wollen die Massenproteste gegen den umstrittenen Sieg von Staatschef Alexander Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen nicht enden, in Minsk gehen wöchentlich Zehntausende Menschen auf die Straße, die Ordnungskräfte attackieren die Demonstranten mit Wasserwerfern, Gummigeschossen, Blendgranaten und Schlagstöcken. Es gab schon 27 000 Festnahmen, Tausende Verletzte und mindestens fünf Tote.
Die internationalen EishockeyFunktionäre aber wollen eine Verschiebung oder Verlegung ihrer WM offenbar vermeiden. „Wir werden uns nicht erpressen lassen“, kommentierte Horst Lichtner, der deutsche Generalsekretär
der IIHF, Ende Oktober die Ankündigung der lettischen Regierung, das Eissportfest nicht, wie geplant, gemeinsam mit Lukaschenko ausrichten zu wollen. Lichtner sagte dem Deutschlandfunk, es sei nicht legitim, wenn Politiker jetzt von der IIHF ein politisches Zeichen forderten. Bis zur WM habe man noch sechs Monate Zeit – „ich bin der Überzeugung, wenn das Land wieder zu einer normalen Lebensart zurückkehrt, wird das eine ganz fantastische WM“.
Allerdings fordern nicht nur Lettlands Politiker Zeichen. Inzwischen haben mehr als tausend weißrussische Leistungssportler einen offenen Brief geschrieben, in dem sie Lukaschenkos Rücktritt verlangen. Während auf der anderen Seite Kampfsportler
und offenbar auch Eishockeyspieler in Zivil über friedliche Lukaschenko-Gegner herfallen.
Es gibt mehrere Videos zu dem tödlichen Angriff auf Roman Bondarenko. Zuvor hatte er einen Wortwechsel mit Leuten in Masken und Trainingsanzügen, die in einem Haushof im Minsker Zentrum Bänder in den rot-weiß-roten Farben der Opposition abrissen. Daneben stand ein Mann, den mehrere Augenzeugen laut der Internetzeitung tribuna.com schon am 18. Oktober bei einer ähnlichen Abreißaktion nahe der UBahnstation Malinowka gesehen hatten. Dort wurde auch seine Stimme aufgenommen, Anwohner sind überzeugt, es handele sich um Dmitri Baskow – Lukaschenko-Spezi und Chef des weißrussischen Eishockeyverbandes. Augenzeugen und Sportjournalisten glauben, dass er unter anderem von Pawel Woltschek begleitet wurde, einem Ex-Eishockeyprofi, der im Liebhaberteam von Präsident Lukaschenko den Schläger schwingt. Tut.by veröffentlichte Fotos, die zeigen, wie ein Mann gleicher Statur und in der gleichen Kleidung am 11. November das Opfer Bondarenko packt. Baskow aber ist seitdem verschwunden, er antwortete Journalisten mehrerer weißrussischer Medien nicht mehr auf ihre Telefonanrufe.
Nun wird nicht nur in Minsk diskutiert, wie die WM unter Lukaschenko aussehen wird. Sollten die Kundgebungen weitergehen, laufen auch ausländische Spieler und Fans Gefahr, von Bereitschaftspolizisten verprügelt zu werden, die schon jetzt oft Passanten mit Demonstranten verwechseln. „Selbst, wenn die Massenproteste bis dahin unterdrückt sind, wird die WM in Belarus einen totalitären Belagerungszustand auslösen“, sagt Dmitri Nawoscha, weißrussischer Herausgeber des Portals sports.ru, der „Schwäbischen Zeitung“. „An allen Ecken stehen Kalaschnikow-Schützen oder Geheimdienstler, für jeden ausländischen Teilnehmer landen vorher Dutzende Weißrussen im Gefängnis.“Mit der olympischen Idee habe eine solche WM nichts mehr zu tun. Bleibt die Hoffnung, dass die IIHF Belarus als Austragungsort streicht – das Land gilt auch als Covid-19-Risikogebiet.