Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Bodensee-Satellit erforscht Meeresspiegel
Sentinel 6 aus Immenstaad fliegt am Samstag ins All – Wichtige Daten für Küstenregionen
IMMENSTAAD - Drei Zentimeter jährlich steigen die Meeresspiegel auf der Erde im Durchschnitt an. Das haben Messungen von Satelliten aus dem All seit 1992 ergeben. Die wichtige Frage ist, verläuft der Anstieg immer noch linear oder doch exponentiell? Unter anderem diese Frage wollen Wissenschaftler in den nächsten Jahren auf der Basis von noch präziseren Daten klären. Die soll der neue Erdbeobachtungssatellit „Sentinel 6 Michael Freilich“liefern, der am Samstag von der amerikanischen Air-Force-Base Vandenberg in Kalifornien mit einer Falcon-9-Rakete ins All geschossen wird. Ausgangspunkt seiner Reise war Immenstaad am Bodensee.
„Sentinel 6 Michael Freilich soll global und lokal die Veränderung des Meeresspiegels vermessen“, sagt Cosmas Heller, „außerdem kann er die Wellenhöhe und die Windgeschwindigkeit auf der Ozeanoberfläche bestimmen.“Heller ist leitender Systemingenieur bei Airbus in Immenstaad für das Sentinel-6-Programm. Der 1,5 Tonnen schwere Satellit wurde von Airbus in Immenstaad federführend für das europäische Umwelt- und Sicherheitsprogramm Copernicus entwickelt und gebaut. Seit 2009 liefen die ersten Studien. Rund 120 Airbus-Mitarbeiter waren bis heute mit dem Projekt beschäftigt, dazu kommen noch mal 500 bis 600 von internationalen Auftragnehmern, die Komponenten zulieferten. Bei dem Projekt arbeiten die europäische und amerikanische Weltraumorganisationen Esa und Nasa zusammen, genauso wie die entsprechenden Wetterund Umweltbehörden NOAA und Eumetsat. Sentinel 6 kostet 330 Millionen Euro, darin enthalten ist jedoch auch der baugleiche Zwillingssatellit Sentinel 6b, der frühestens 2025 ins All fliegen soll. Sentinel 6a wurde mittlerweile zu Ehren des ehemaligen Direktors der NASAErdbeobachtungsabteilung in „Sentinel 6 Michael Freilich“umbenannt.
Seit 1992 vermessen Erdbeobachtungssatelliten den Meeresspiegel aus dem All. Seit 2016 ist dafür der Satellit Jason 3 im Einsatz, der jetzt von Sentinel 6 abgelöst werden soll. Der Satellit ist ausgestattet mit hochpräzisen Ortungsinstrumenten, darunter ist ein Radar-Höhenmesser und ein Mikrowellen-Radiometer. Neu an Sentinel 6 MF ist die höhere Auflösung durch den sogenannten SAR-Mode, wie Heller weiter sagt, „der vor allem auch die Küstenregionen detailliert kartografiert.“Sentinel 6 soll die Kartierung der Meeresoberfläche auf ein neues Niveau heben und sie aus rund 1300 Kilometern Höhe alle zehn Tage bis auf wenige Zentimeter genau messen. Die bereinigten Daten sollen laut Heller übers Jahr gesehen nur noch Abweichungen im Millimeterbereich enthalten.
Sentinel 6 MF soll dabei alle relevanten Küstenregionen kartografieren, nicht jedoch die Pole. Bislang ergaben die Messdaten laut Heller einen Anstieg des Meeresspiegels von drei Zentimetern pro Jahr. Seit Beginn
der Messung sei damit ein Anstieg von knapp 90 Zentimetern zu verzeichnen. „Die Wissenschaftler fragen sich gerade, ob der Anstieg stärker verläuft als linear“, sagt Heller. In der Lebenszeit von Sentinel 6 werde man diese Frage wahrscheinlich klären können. „Linear wäre noch der Bestcase.“Der Satellit soll mindestens fünf Jahre im All bleiben, eventuell sogar siebeneinhalb Jahre.
Anschließend wird er von Sentinel 6b abgelöst, Sentinel 6 MH wird dann kontrolliert in die Erdatmosphäre gesteuert, wo er verglüht.
Wichtig sind die Daten laut Heller vor allem „für die langfristige Städteplanung und Urbanisierung“. Als Beispiel nennt er Manhatten. Ohne Schutzmaßnahmen wäre der Bezirk von New York bei einem linearen Anstieg des Meeresspiegels in 80 Jahren überschwemmt. „Bei einem exponentiellen Wachstum hätte man aber viel weniger Zeit, sich darauf vorzubereiten und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.“Anzeichen für einen exponentiellen Anstieg gebe es bereits. „Europa hat 65 000 Kilometer Küstenlinie“, sagt Airbus-Pressesprecher Mathias Pikelj zur Bedeutung der Sentinel-6Daten. Von Holland liege etwa 50 Prozent der Fläche im Bereich von plus/minus einem Meter zum Meeresspiegel.
Heller setzt deshalb auch die Kosten des Projekts in Relation zu den teuren Schutzmaßnahmen, aufgrund der Sentinel-Daten könne man sie gezielter treffen. Darüber hinaus soll Sentinel 6 MH auch wichtige Wetterund Klimadaten liefern. „Sie können helfen, Effekte wie El Niño oder El Niña besser zu verstehen und vorherzusagen.“Auch die Warnung von Küstenregionen und Schiffen vor Unwettern und extrem hohen Wellen soll durch Sentinel 6 MH schneller und präziser werden.
Am Samstag um 18:17 Uhr unserer Zeit heißt es für Cosmas Heller und sein Team Daumen drücken. Dann startet Sentinel 6 MH mit einer Falcon-9-Rakete (Space X) ins All. Eine Stunde nach dem Start wird der Satellit von der obersten Stufe der Rakete getrennt. Er wird hochgefahren und meldet sich bei der Bodenstation mit einem ersten Zustandsbericht. „Das ist der wichtigste Moment, dass er ansprechbar ist“, sagt Heller. Zwei Solarpanels zur Stromversorgung werden hochgefahren. Der Satellit muss sich im All stabilisieren, nach der Trennsequenz taumelt er zunächst. Die Messgeräte werden gecheckt und dann nimmt Sentinel die Spur seines Vorgängers Jason 3 auf, fliegt ihm hinterher und ist damit auf Kurs.
Die Mitarbeiter von Airbus sitzen im Europäischen Raumflugkontrollzentrum (ESOC) in Darmstadt, von wo aus der Satellit gesteuert wird. „Die Spannung ist groß“, sagt Heller, im Falle eines Fehlers müsse schnell reagiert werden, der Satellit kreist jeweils in 110 Minuten um die Erde und ist dabei nur zehn Minuten lang ansprechbar für die Bodencrew, dann ist er wieder außer Reichweite. Läuft alles nach Plan, liefert Sentinel 6 MH schon bald wichtige Daten für die Dokumentation des Klimawandels.