Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Im Osten glaubte man dem Westen“
Ingo Schulze über die Überheblichkeit westdeutscher Kollegen und clevere PR-Tricks
Mit „Simple Storys“(1998) gelang dem Schriftsteller Ingo Schulze der Durchbruch. Seitdem ist er aus dem Literaturbetrieb nicht mehr wegzudenken. Im Frühjahr erschien sein Roman „Die rechtschaffenen Mörder“, der auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis stand. Welf Grombacher hat mit dem Schriftsteller darüber gesprochen, warum sich nicht nur ostdeutsche Autoren über ihre Herkunft Gedanken machen sollten, sondern auch westdeutsche. Und Schulze erklärt auch, warum er es für einen PR-Trick hält, wenn seine Schriftstellerkollegen Monika Maron und Uwe Tellkamp über mangelnde Diskussionsfreiheit klagen.
Immer wieder haben Sie über die „Wende“geschrieben. Zuletzt sind zwei herrliche Schelmenromane dabei herausgekommen. Bleibt einem bei dem Thema nur Galgenhumor?
Komik und Tragik lassen sich, wenn man genau hinschaut, nie wirklich voneinander trennen. Diese Zeit vor 31 und vor 30 Jahren ist ja auch – abgesehen von ihren sehr konkreten Folgen – ein Schauplatz von Deutungen. Wer erringt die Deutungshoheit über diese Zeit. Und das ist enorm wichtig. Deutet man es als einen endgültigen Sieg des Kapitalismus, der durch die Selbstbefreiung des Ostens in seinem Neoliberalismus, überhaupt in seinem „Weiter so!“bestärkt wurde, also als „Ende der Geschichte“. Oder war das eine vergebene Chance, schon vor 30 Jahren die Weichen so zu stellen, um ein Überleben unserer Zivilisation in Frieden und sozialer Gerechtigkeit zu ermöglichen.
Regelmäßig werden Sie als „ostdeutscher Schriftsteller“interviewt. Stört Sie diese Schublade?
Mich würde es nicht stören, wenn die Generationsgenossen von mir aus dem Westen als westdeutsche Schriftsteller wahrgenommen werden. Das passiert natürlich nicht. Die Publizistin Ferda Ataman sagte mir vor ein paar Tagen: „Wir wissen, wir haben einen Migrationshintergrund, ihr wisst, ihr habt einen Osthintergrund, nur die im Westen wissen nicht, dass sie einen Westhintergrund haben.“Mit anderen Worten: Jemand aus dem Westen ohne Migrationshintergrund hat es schwerer, das Spezifische seiner Existenz zu begreifen. Indem man sich für das „Normale“hält, für den „Standard“, hat man es schwerer, den eigenen blinden Fleck zu erkennen. Deshalb müssen auch immer die Ostlerinnen und Ostler, die Migrantinnen und Migranten „ankommen“.
mus in den vergangenen 30 Jahren verändert?
In dem neuen Buch von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld „Tam Tam und Tabu“findet sich eine minutiöse Beschreibung der Presse vom Herbst 1989 bis in den Frühsommer 1990 hinein. Das zu lesen ist ziemlich schockierend. Im Osten glaubte man ja recht kritiklos dem, was aus dem Westen kam. Und konnte sich auch nicht vorstellen, dass etwas, das als Interview-Aussage galt, einfach erfunden war. Ich würde immer für eine Stärkung der öffentlich-rechtlichen Medien eintreten, aber auch harte Anforderungen an sie stellen. Bei den Zeitungen habe ich es im ganz Kleinen selbst erlebt: Wer eine Zeitung besitzt, hat ziemlich viel Macht. Andererseits sind Zeitungen heute in einem Existenzkampf, weil der ständige Verlust der Anzeigen, der Rückgang der Abonnements, nicht ohne Einfluss bleiben. Wer Artikel schlecht bezahlt, kann keine große Recherche erwarten. Zum anderen werden die Formate immer kürzer, immer „bunter“. Das ist ein Teufelskreis. Da noch guten Journalismus zu machen, gerade im Lokalen, ist nahezu heroisch. Das ist ein Problem, das uns alle sehr direkt angeht.
In Altenburg waren Sie zuvor Dramaturg am Landestheater. Mittlerweile fusioniert mit den Bühnen der Stadt Gera. Könnten Sie sich vorstellen, mal wieder fürs Theater zu arbeiten? Vielleicht ein Theaterstück von Ingo Schulze?
Ich habe ja das Glück, dass meine Romane dramatisiert werden. Ich würde schon gern mal ein Stück versuchen. Aber wenn ich es dann versuche, falle ich irgendwann wieder in die Prosa, weil ich da auch gleichzeitig der Regisseur sein kann.
Ihnen vorgelesen haben, bis Sie 13 waren. Wie kam es?
Weil ich faul und bequem war. Erst als die Langeweile zu groß wurde, habe ich angefangen zu lesen. Das war eine große Entdeckung: Ich musste mich nicht mehr langweilen.
Sie hat Ihnen auch Geschichten erzählt, in denen die Helden Ihnen geähnelt haben sollen. Was halten Sie von Heldengeschichten?
Es gibt heroische Taten, es gibt auch Menschen, denen es gelingt, gegen jede Wahrscheinlichkeit mitleidend auch mit dem Feind zu sein, ich denke an jemanden wie Mandela. Aber nicht umsonst sind Helden etwas für Märchen und für ideologische Erzählungen, in denen das Gute und das Böse immer klar getrennt sind. Der Alltag ist selten so eindeutig, mein eigenes Leben steckt voller Widersprüche. Und Literatur, überhaupt die Künste, wenn sie ihren Namen verdienen, habe es mit dem widersprüchlichen Leben zu tun, nur dass man in den Künsten die Widersprüche bewusster nebeneinanderstellen kann als einem das im Alltag gelingt.
Haben Sie das aktuelle Buch von Monika Maron („Artur Lanz“) gelesen? Was denken Sie, wenn Kollegen wie Maron oder Uwe Tellkamp sagen, man könne in der BRD bald bestimmte Dinge nicht mehr sagen, so wie früher in der DDR?
Nein, habe ich noch nicht gelesen, obwohl es mich interessiert. Es wird doch, und Ihre Frage ist im Grunde ein Beleg dafür, über kaum jemanden so viel gesprochen wie über diejenigen, die aus konservativer oder rechter Position heraus klagen, man könne nichts sagen. Ich weiß nicht, ob ihnen bestellte Artikel abgelehnt worden sind, das ist mir zweimal passiert. Es gibt schon die Schwierigkeiten, bestimmte Themen ausgewogener in der Öffentlichkeit zu diskutieren, aber dieses Gejammere kommt mir allmählich wie ein PRTrick vor, um mehr Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken.
Haben Uwe Tellkamp, Peter Handke oder Saša Stanišic Sie angesprochen, nachdem Sie in Ihrem Roman „Die rechtschaffenden Mörder“ironisch auf sie angespielt haben?
Oh, habe ich ironisch auf sie angespielt? Angesprochen haben sie mich jedenfalls nicht. Das heißt, Saša hat mir auf Hiddensee, als ich nach ihm im Sommer für ein paar Tage in das Gerhart-Hauptmann-Haus einzog, seine Grüße auf eine Büchse mit Bohnen geklebt, die war sehr gut. Da muss ich mich noch bedanken.
Ab und zu setzten Sie sich in die Vorlesungen Ihrer Frau Jutta Müller-Tamm, die an der FU Berlin Neuere deutsche Literatur unterrichtet. Sie selbst sprachen mal von „Nachhilfeunterricht für einen Schriftsteller“. Was können Sie von ihr lernen?
Man kann ja nie genug wissen, sich nie bewusst genug einer Sache sein. Ich liebe auch die Anstrengung des Begriffs, die ich selbst nicht so leisten kann. Für mich ist das alles anregend, ob das Hinweise auf Autoren und Bücher sind oder die Analyse einer Szene. Letzteres kann auch eine Art Lehrbuch für das eigene Schreiben sein. Und die Literatur ist ein Ozean, allein schon die deutschsprachige. Wenn man da herumschwimmt, ist ein Boot in der Nähe noch dazu mit Radar nicht schlecht.
Wer von Ihnen beiden liest mehr?
Eindeutig sie. Aber sie muss vieles lesen, zum Beispiel meine Manuskripte. Ich bin etwas freier in meiner Wahl.
Und wer hat den besseren Literatur-Geschmack?
Sie natürlich. Denn das meiste, was ich schreibe, gefällt ihr.