Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Weihnachtsmarkt zum Mitnehmen
Ein Landshuter Gastronom macht mit einem Drive-in-Christkindlesmarkt aus der Corona-Not eine Tugend
St. Nikolaus reicht den Bestellzettel durch das halb heruntergekurbelte Autofenster. In seiner Kutte steckt als reichlich komischer Heiliger ein auffällig junger Kerl – Typ Skilehrer oder Windsurfer – der wenig feierlich einfach „Servus“sagt und das Prozedere von Deutschlands wahrscheinlich erstem Drive-in-Weihnachtsmarkt ganz lässig erklärt: „Auf der Karte steht alles drauf, die Kollegin da hinten um die Kurve nimmt die Bestellung dann entgegen. Viel Vergnügen!“Als kostenlose Dreingabe spendiert der Bischof von Myra noch ein Heft der Zeitschrift „Wohnen & Garten“– natürlich die Weihnachtsausgabe.
Vor dem eigenen Auto stehen soweit das Auge reicht Fahrzeuge mit laufendem Motor, dahinter ebenfalls. Die Fahrgasse ist gesäumt von Christbäumen. In der Luft vereint sich der Dunst von Bratwurst mit dem Dampf des Glühweins zum typischen Geruchsbild eines waschechten Christkindlesmarkts. Aus den Musikboxen perlt Weihnachtspopmusik wie akustisches Lametta. Und tatsächlich, ein paar Meter weiter über dem weißen Mercedes mit Sigmaringer Kennzeichen, fängt’s jetzt auch noch an zu schneien. In feinen, dichten Flocken, die sich auf der Windschutzscheibe als Schaum sammeln. Wer jetzt noch keine vorweihnachtlichen Gefühle hat, dem muss der nicht wegzudiskutierende Dieselgeruch das Hirn vernebelt haben.
Es scheint fast so, als habe sich das öffentliche Weihnachten, wie es in Deutschland sonst auf unzähligen Christkindlesmärkten mit glitzerndem Glühwein-Budenzauber zelebriert wird, hier ein Versteck gesucht – und auch gefunden: in Landshut, auf dem Parkplatz der Brauereigaststätte Zollhaus. Der Chef heißt Patrick Schmidt. Er ist 31 Jahre alt und trotzdem schon Gastronom mit mehr als einem Jahrzehnt Berufserfahrung. Als er den
Mund-Nasen-Schutz kurz abnimmt, um einen Schluck Glühwein zu trinken, zeigt er ein gutmütiges Gesicht mit Vollbart. Schmidt ist ein kompaktes Energiebündel, dem man die Freude an gutem Essen durchaus ansieht. In einer der seit Anfang November leeren Gaststuben sagt er jetzt: „Einfach den Kopf in den Sand stecken, das geht ja nicht.“Bloß zusperren und warten, bis dieses Corona-Elend vorbei ist – Schmidt hat sich Ende Oktober, als sich die nächste Allgemeinverfügung mit geschlossener Gastronomie ankündigte, für eine andere Strategie entschieden. „Wir haben unsere fünf Azubis erst mal
Patrick Schmidts außergewöhnliche Idee macht international Schlagzeilen fünf Tage lang Weihnachtsplätzchen backen lassen“, erinnert sich Schmidt. Da sei Weihnachtsstimmung quasi schlagartig in der ganzen Mannschaft ausgebrochen. Zu der Zeit habe er sich genau überlegt, was einen Christkindlesmarkt denn eigentlich ausmacht. „Und dann bin ich im Geiste durch einen solchen Markt, wie ich ihn mir vorstelle, durchgefahren.“
In der frostigen Realität dieses späten November-Samstags lässt sich Schmidts Vision gemütlich unter der wärmenden Wirkung der eigenen Sitzheizung im wahrsten
Sinne des Wortes erfahren. In etwa einer Viertelstunde ab dem Zeitpunkt, ab dem der Nikolaus ans Autofenster tritt, geht es hufeisenförmig vorbei am unbemannten kleinen Karussell und einmal um die zwei Buden mit Naschwerk sowie den zentralen Bereich, wo das Essen zubereitet, eingepackt und wiederum durchs Fenster gereicht wird – natürlich mit Maske und ausgestrecktem Arm, der Hygieneund Abstandsregeln wegen.
Franzi heißt eine der Servicekräfte von Schmidt, die jetzt eine Auto-Bestellung entgegennimmt. „Ganz davon abgesehen, dass wir durch den Markt jetzt nicht in Kurzarbeit müssen, macht es einfach unheimlich viel Spaß.“Durch den ruhigen Fluss der Autos kommt zudem nur selten Hektik auf. Die Kapazität wird dadurch natürlich beschränkt. „600 bis 1000 Fahrzeuge täglich, das ist drin“, rechnet Patrick Schmidt vor. Man sei jetzt in den Abläufen schon deutlich effizienter geworden als am Anfang. Aber irgendwann sei das ausgereizt. „Außerdem sollen die Leute das ja auch genießen“, sagt der Chef. So schnell wie möglich durchrauschen – wie bei McDonald’s – das wolle hier ja niemand. Geöffnet ist donnerstags bis sonntags von 11 bis 20 Uhr. „Künftig wahrscheinlich auch mittwochs“, sagt Schmidt. Wegen des großen Andrangs. Wenn der so anhalte wie bisher, könnten am Ende 15 000 Fahrzeuge durch den kleinen Markt gekurvt sein, glaubt der Chef, vorsichtig geschätzt.
Und wie kommt diese vorweihnachtliche Ersatzbefriedigung, dieses Weihnachten-to-go, an? Als die Dämmerung hereinbricht, muss draußen auf der Kreuzung vor dem Wirtshausgelände der Verkehr durch einen Mitarbeiter von Schmidt geregelt werden. Jetzt dauert es schon fast eine Dreiviertelstunde, bis der Nikolaus überhaupt erst in Sichtweite kommt. Es habe schon Tage gegeben, da seien es beinah eineinhalb Stunden gewesen, sagt Schmidt. Ein Paar aus Passau, das sich gerade
Langos im Auto schmecken lässt, öffnet mit leuchtenden Augen die Fenster. Die Beifahrerin schwärmt mit glänzenden Augen: „Ich finde das so eine tolle Idee, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“Ein paar Fahrzeuge weiter hinten sitzen Xenia und Tim in einem Wagen mit Böblinger Kennzeichen. Sind sie wirklich extra wegen des Drive-inWeihnachtsmarktes gekommen? Xenia nickt heftig und lächelt wie ein Christkind. Knapp drei Stunden, einfache Fahrt. „Ob es sich gelohnt hat? Freilich“, sagt Tim am Steuer und freut sich auf das gerade bestellte Popcorn. Besonders der so realistisch wirkende Kunstschnee sei „der absolute Knaller“. Die Böblinger wollen nicht ausschließen, vielleicht am nächsten Wochenende noch einmal nach Landshut zu kommen.
„Natürlich muss man wegen Corona schon auf ein paar Feinheiten achten“, erklärt Patrick Schmidt. Aus den Fahrzeugen aussteigen und herumlaufen ist verboten. Ebenso der Verzehr der gekauften Sachen auf dem Gelände der Gaststätte. Auch die Glühweinregelung ist besonders. Den darf Schmidt nämlich nicht einfach so trinkfertig im
Becher ausschenken. Denn das wäre ja irgendwie Bewirtung, wie sie im Moment nicht geht. „Also schenken wir ihn in Thermoskannen ein, verschließen sie. Dann bleibt der Glühwein bis daheim warm.“Kostenpunkt für einen halben Liter inklusive Thermosflasche: 13 Euro. Er und sein Team – insgesamt sind zwölf Menschen auf und mit dem Weihnachtsmarkt beschäftigt – haben sämtliche Geschäfte im Umkreis von 50 Kilometern geplündert, um ausreichend Thermoskannen vorrätig zu haben. Aber Glühwein ist nicht alles: „Steaksemmel, Rehgulasch, Zuckerwatte, Langos, Crepes, heiße Maroni – es gibt alles Mögliche“, sagt Vera, die am Ende des Hufeisens an der Kasse sitzt. „Und vor allem der halbe Meter Wurst“, der sei der Renner. Drüben bei Franzi fragt ein englischsprachiger Herr, wie viel Wurst das umgerechnet in Inch sei.
Das Konzept des Drive-in-Weihnachtsmarkts beruht auf dem ersten Coup, den Patrick Schmidt schon während der ersten Welle im Frühjahr landete: die Drive-in-Dult. Die Dult, das ist in Landshut das traditionelle Volksfest, für Einheimische im Rang des Oktoberfests. „Schon damals haben die Leute das toll angenommen“, erinnert sich der Gastronom. Und nicht nur die – auch das Medienecho war enorm und schallte bis über den Atlantik, zum Beispiel in der „New York Times“oder der „Washington Post“. Und jetzt wieder, mit dem Weihnachtsmarkt. „Nächste Woche hat sich die BBC angekündigt“, sagt Schmidt, der langsam den Überblick wegen der vielen Kamerateams und Reporter verliert.
Aber was hat Weihnachten für ihn selbst für eine Bedeutung? Und der Christkindlesmarkt? „Wenn Sie’s nur allein wegen dem Geld machen, dann kriegen Sie so eine Atmosphäre, so eine Stimmung gar nicht hin.“Sicher sei der tolle Erfolg eine schöne Sache, „aber eine normale Saison wäre mir lieber“. Denn die vielen Weihnachtsfeiern, von denen er nicht glaubt, dass sie werden stattfinden dürfen, könne der Weihnachtsmarkt nicht kompensieren. Froh ist er trotzdem, dass seine Mitarbeiter was zu tun haben, dass Kurzarbeit kein Thema sei.
Inzwischen ist es komplett dunkel. Und der heilige Nikolaus kann froh sein, dass unter seiner Kutte kein Schmerbauch wackelt, sondern eine Sportlerfigur dafür sorgt, dass er das anspruchsvolle Hin und Her konditionell gut meistert. Immer wieder muss er für die Menschen mit seinem Bischofsstab posieren. Die Gratis-Hefte „Wohnen & Garten“sind längst alle, im Lautsprecher behauptet Bing Crosby zum wiederholten Male „I’m Dreaming of a White Christmas“. Und wie auf Kommando schleudert die Schneemaschine weißen Schaum über einen kleinen Teil der Weihnachtsmarkt-Autokolonne, die längst auf knapp 100 wartende Fahrzeuge angewachsen ist.
Nächste Woche hat sich die BBC angekündigt.
Sehen Sie den Drive-inWeihnachtsmarkt im Video unter www.schwäbische.de/drive-in