Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
EU-Verträge für 2,3 Milliarden Impfdosen
Warum ein deutscher Alleingang bei der Vakzinbestellung nichts mehr bringt
BRÜSSEL - Bevor es mit dem Impfen richtig losgeht, streiten sich in Deutschland die Parteien vorwahlkampftauglich um Mengen und Methoden. Vor allem die Regierungspartei SPD und die oppositionelle FDP werfen die Frage auf, ob die Bundesregierung gut genug für ihre eigenen Bürger sorgt. In den Nachbarländern hingegen steht der Vorwurf im Raum, das mächtige Deutschland habe mit einer Vorabbestellung von 30 Millionen Biontech-Impfdosen im September letzten Jahres gegen Absprachen der Mitgliedsstaaten verstoßen. EUKommissionschefin Ursula von der Leyen beantwortete die Frage nach dem deutschen Alleingang letzte Woche ausweichend.
Hat Deutschland mit seiner Zusatzbestellung europäische Regeln verletzt?
Wie immer in Europa macht das Kleingedruckte die Sache kompliziert. In einer Vereinbarung vom 16. Juni 2020 haben sich die Mitgliedsstaaten mit der Kommission darauf geeinigt, dass ausschließlich Brüssel die Vorkaufsverträge mit den Herstellern abschließt. In Artikel 7 heißt es: „Die teilnehmenden Mitgliedsstaaten erklären sich bereit, keine eigenen Reservierungsvereinbarungen mit denselben Herstellern abzuschließen.“Allerdings kann jeder Mitgliedsstaat bis zum Vertragsabschluss jederzeit ausscheren und ist dann nicht länger an die Absprache gebunden. Wenn Deutschland also seine Sonderration bestellt hatte, bevor der EU-Vertrag mit Biontech geschlossen war, hat es zwar nicht den Buchstaben, wohl aber den Geist der Vereinbarung verletzt.
Warum geht die Kommission milde mit Deutschland um und kritisiert andere Alleingänger scharf ?
Wer jetzt mit Biontech, Pfizer oder Astra-Zeneca nachverhandelt, obwohl die EU-Verträge unterzeichnet sind, bricht die Absprache. In einer Anhörung des Gesundheitsausschusses des EU-Parlaments am Dienstag betonte die Generaldirektorin Sandra Gallina, ein solches Verhalten sei zudem sinnlos: „Wer nicht letztes Jahr bestellt hat, kommt ohnehin nicht zum Zuge. Die Dosen sind von der EU fest geordert. Da steht sozusagen schon der Name des Mitgliedslands, das beliefert wird, auf jeder Ampulle.“Und der EVPFraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU) sagte: „Es würde die EU massiv belasten, wenn die Regierungen jetzt anfangen würden, sich gegenseitig die Impfstoffe abzujagen.“
Wie viel Impfstoff steht für die EU bereit – und wann?
Die EU-Kommission hat vom zuerst zugelassenen Impfstoff von Pfizer/ Biontech 600 Millionen Dosen bestellt, die bis zum Sommer geliefert werden sollen. Hinzu kommen 160 Millionen Dosen von Moderna, der Nummer 2 im Zulassungsrennen. Ende des Monats wird mit der Zulassung von Astra-Zeneca gerechnet. Außerdem rechnet die EU offenbar damit, dass Johnson&Johnson im Februar die Zulassung für seine CovidVakzine
beantragen wird und hat sich 200 Millionen Dosen des Impfstoffes sowie eine Option auf weitere 200 Millionen Dosen gesichert. Insgesamt hat die EU Verträge und Optionen für 2,3 Milliarden Impfdosen abgeschlossen.
Was sagt Brüssel zu Herdenimmunität und Impfzwang?
Wissenschaftler gehen davon aus, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft sein müssen, damit Corona seinen Schrecken verliert – bei 450 Millionen Europäern würden dafür etwa 600 Millionen Impfdosen gebraucht. Sandra Gallina betonte, dass die Impfstrategie in den Zuständigkeitsbereich
der Mitgliedsstaaten fällt. Sie entscheiden auch über eine mögliche Impfpflicht. Ängste seien aber unbegründet. Die neue Methode, mit dem Impfstoff die Oberflächenstruktur des Virus nachzubauen, habe vermutlich deutlich weniger Nebenwirkungen als klassische Impfstoffe. Im Bereich der Impfstoffentwicklung sei das „der Übergang von der Kerze zum elektrischen Licht“. Bislang seien von den Mitgliedsstaaten keinerlei Komplikationen bei den ersten Impfungen gemeldet worden.
Was geschieht mit den überzähligen Impfdosen, wenn alle Impfwilligen in der EU versorgt sind?
Viele unserer Nachbarländer, zum Beispiel auf dem Westbalkan, haben weder das Geld noch die Marktmacht, um schnell an Impfstoffe zu kommen. Deshalb hat sich Griechenland bereit gezeigt, in dieser Region zu helfen. Rumänien will überzähliges Vakzin nach Moldawien weiterleiten. Auch andere Mitgliedsländer überlegen, wie sie sich solidarisch zeigen können.
Warum waren andere Länder wie Großbritannien oder Israel schneller als die EU?
Möglicherweise gab es mit Israel eine Sonderabsprache, zum Beispiel Impfdaten für die weitere Forschung der Unternehmen zur Verfügung zu stellen. In Europa verhindert das der sehr weitgehende Datenschutz. Entscheidend war aber, dass beide Länder nicht auf die endgültige Zulassung des Impfstoffes gewartet haben. Die EU hat sich gegen eine vorläufige Zulassung entschieden – aus Sicherheits- und Haftungsgründen. Denn nach der abschließenden Genehmigung durch die Europäische Medizinagentur liegt das Haftungsrisiko ausschließlich beim Hersteller.
Hätte Brüssel früher und mehr einkaufen sollen?
65 Impfstoffentwickler waren zu Beginn im Rennen. Da war es schwierig, gleich auf die richtige Karte zu setzen. Die EU hat sich bei ihren Optionen und Einkäufen am Rat der Experten aus den Mitgliedsstaaten orientiert. Niemand habe zu dem Zeitpunkt wissen können, wer das Rennen machen würde, verteidigt sich Gallina. Natürlich seien auch die Kosten mitentscheidend gewesen. Die Kommission habe letztlich einen Preis aushandeln können, der auch für ärmere Mitgliedsstaaten erschwinglich sei.