Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Ruhe vor dem Wurm
Auf einer kleinen Insel im Viktoriasee kämpfen ein Arzt aus Tansania und sein Kollege aus Würzburg gegen den Erreger der Bilharziose – Sie wollen die Krankheit ausrotten
Der alte Fischer mit dem aufgeblähten Bauch kann sich an das Leben ohne Schmerzen kaum erinnern. Sein Neffe führt ihn in die medizinische Versorgungshütte von Ijinga, einer kleinen Insel im Viktoriasee in Tansania. „Wir haben gehört, dass die Ärzte heute da sind“, sagt der junge Mann. Dann winkt er ihnen zu: Andreas Müller, dem Tropenmediziner aus Würzburg und Humphrey Mazigo, dem Parasitologen aus der nahegelegenen Großstadt Mwanza, der Müller hilft, weil hier alles ein bisschen anders läuft.
Der Fischer legt sich auf die Pritsche. Mazigo kennt ihn gut, er hatte ihn bereits mehrmals behandelt, bevor der Alte sich lieber wieder den Medizinmännern anvertraute und sich sein Zustand verschlechterte. Er leidet an den Spätfolgen von Bilharziose, einer Wurmkrankheit, die durch verseuchtes Süßwasser übertragen wird. Die meisten der rund 40 Millionen Menschen in den Seeregionen von Tansania, Uganda und Kenia, sind damit infiziert. Unbehandelt kann die Krankheit zum Tod führen.
Auf Ijinga – etwa vier Kilometer lang und einen Kilometer breit – wollen Müller und Mazigo diese Krankheit jetzt ausrotten. „Wenn wir es hier nicht schaffen, wie soll es dann je irgendwo anders klappen?“, fragt der Würzburger Arzt. Das Missionsärztliche Institut in Würzburg trägt das Projekt, zum 50. Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Mwanza und Würzburg konnten die Ärzte außerdem Christian Schuchardt, den Oberbürgermeister der deutschen Stadt, als Schirmherren gewinnen.
Weltweit sind über 200 Millionen Menschen mit Bilharziose infiziert, die meisten davon in Afrika. Betroffen sind vor allem die Ärmsten der Armen: Die Ausbreitung wird begünstigt durch schlechte Gesundheits- und Wasserversorgung, Mangelernährung sowie politische Ignoranz. Trotz ihrer hohen Verbreitung gehört sie zu den sogenannten „Neglected Tropical Diseases“(NTD), den vernachlässigten Tropenkrankheiten. Im Gegensatz zu Malaria, HIV und Tuberkulose fristen die NTD in den Budgets für medizinische Entwicklungshilfe ein Schattendasein.
Mit einem tragbaren Ultraschallgerät untersucht Müller den prallen Bauch des Patienten. Er sieht zerWeltweit störtes und vernarbtes Lebergewebe. Das behindert den Blutfluss durch die dicke Pfortader, in der das Blut aus den Bauchorganen zum Herzen fließt. Es sucht sich einen anderen Weg, durch die Adern in der Speisröhre. Dort steigt der Druck, es drohen Blutungen. „In solchen Fällen läuft zunächst der Magen voll, dann erbricht der Patient bis zu anderthalb Liter Blut“, sagt Müller. Das Krankenhaus in Mwanza, in das der Mann dann eingeliefert werden müsste, liegt vier Stunden entfernt. Deshalb müssen Betroffene dringend vorsorglich behandelt werden, mit dem Medikament Praziquantel oder – im fortgeschrittenen Stadium – mit einer speziellen Prozedur im Krankenhaus, bei der blutungsgefährdete
Stellen in der Speiseröhre von innen mit kleinen Gummiringen verschlossen werden.
Humphrey Mazigo kennt das Drama um die Bilharziose seit seiner Kindheit. Er verbrachte die Ferien oft bei seinen Großeltern auf Ukarewe, einer großen Insel im Viktoriasee. „Die Kinder gingen abends alle im See baden. Weil meine Eltern Apotheker waren, wussten sie, dass das Wasser krank macht und verboten mir mitzugehen.“Später schrieb er seine Doktorarbeit über Bilharziose in der Seeregion und machte ihre Ausrottung zu seiner Aufgabe. In Andreas Müller fand er einen Verbündeten. Bei den regelmäßigen Behandlungsrunden, bei denen sie auf der Insel das Medikament ausgeben, lässt er gekochten Reis und Getränke verteilen. Zum einen ist das für viele ein zusätzlicher Grund, die Pille zu nehmen – zum anderen steigert es deren Verträglichkeit.
haben circa 1,5 Milliarden Menschen mindestens eine vernachlässigte Tropenkrankheit. Die Vereinten Nationen haben 2015 beschlossen, das zu ändern: In ihrer „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“setzten sie sich zum Ziel, die Zahl der Betroffenen innerhalb der nächsten 15 Jahre um 90 Prozent zu senken. In Zeiten von Corona ist die Bekämpfung anderer Krankheiten aber stark beeinträchtigt. Medizinische Behandlungsrunden sind nicht mit Abstandsregeln zu vereinbaren, zudem wird das medizinische Personal in den Krankenhäusern gebraucht. Die WHO wollte 2020 ihren Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der vernachlässigten Tropenkrankheiten aktualisieren – auch das liegt nun auf Eis.
„Die Gefahr durch diese Krankheiten wird häufig unterschätzt, weil sie nicht als tödlich gelten“, erklärt Professor Achim Hörauf, Parasitologe an der Uni Bonn und Sprecher des Deutschen Netzwerks gegen vernachlässigte Tropenkrankheiten. „Dennoch sterben sehr viele Menschen an den Folgeerkrankungen, die eine unbehandelte Infektion nach sich zieht.“Ein längerer Stopp der Behandlungsrunden bedeute mehr Infizierte und womöglich Hunderttausende Tote. Außerdem führten nicht tödliche Verläufe sehr häufig zu Behinderungen und bleibenden Schäden. „Die afrikanischen Länder sind bisher besser durch die CoronaKrise gekommen als erwartet. Hier müsste man abwägen, ob die strikten Vorsichtsmaßnahmen der WHO nicht mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen“, sagt Hörauf.
Um den Kampf zu gewinnen, braucht es jedoch mehr als nur Aufmerksamkeit und die regelmäßige Tablettengabe. Eine Stärkung der Gesundheitssysteme ist ebenso wichtig wie eine funktionierende Trinkwasser- und Sanitärversorgung sowie Investitionen in Bildung und Aufklärung. Wenn die Bilharziose auf der Insel Ijinga verschwinden soll, müssen die beiden Ärzte es zunächst schaffen, die Lebensumstände der Menschen zu verbessern. Auf Ijinga leben etwa 2500 Menschen in fünf Dörfern aus Lehm- und Steinhütten ohne Strom. Morgens fahren die Fischer mit bunt bemalten Booten hinaus auf den Viktoriasee. Es gibt nur die eine Hütte zur medizinischen Versorgung. Bevor Müller und Mazigo kamen, war der See die einzige Wasserquelle zum Trinken, Waschen und Kochen. Die Fischer stehen abends bis zur Hüfte im Wasser, wenn sie unter lauten Gesängen
die Netze einholen. Und die Kinder gehen hier täglich baden. Die Menschen sind tief verbunden mit dem See. Genau darin liegt das Problem.
Die Bilharziose-Erreger sind ein bis zwei Zentimeter lange Saugwürmer, deren Eier durch menschlichen Kot in den Viktoriasee gelangen. Zwar wurden die Inselbewohner im Zuge der Choleraepidemie um 2015 zum Bau von Toiletten verpflichtet – doch wer eine Toilette hat, braucht auch einen Wasseranschluss. Wer das nicht hat, dem wird es schnell zu kompliziert. So greifen viele auf altbewährte Lösungen zurück.
Also gelangen die Eier der Saugwürmer weiterhin ins Süßwasser, bis daraus schließlich winzig kleine Larven schlüpfen. Diese dringen wiederum in Wasserschnecken ein und dort werden sie zu sogenannten Sporozysten. In diesen kleinen, sackförmigen Gebilden aus Muskelund
Keimzellen entwickeln sich die infektiösen Gabelschwanzlarven, die dann wiederum von den Schnecken ausgeschieden werden. Die Larven suchen im Wasser aktiv den Menschen auf und dringen in dessen Haut ein. Ihre Reise durch den Körper bis zum System der Pfortader beginnt. Dort wachsen die Larven innerhalb von vier Wochen zu männlichen und weiblichen Würmern, die sich paaren. In noch einmal vier Wochen produzieren sie Eier, die der Mensch über den Darm ausscheidet. Dann beginnt der Kreislauf von vorn.
Die Behandlung mit Praziquantel unterbricht den ewigen Infektionskreislauf: die Tabletten kosten 20 Cent pro Stück und werden containerweise von der Pharmaindustrie gespendet. Ein Problem sind die Kosten für die Logistik der Verteilung in entlegenen Gebieten. Das nationale Programm Tansanias zur Bekämpfung der Bilharziose sieht gerade mal eine Behandlung pro Jahr in Risikogebieten vor und das ausschließlich für Schulkinder. Doch die Würmer interessieren sich nicht für das Alter ihres Wirts. Auf Ijinga behandeln Müller und Mazigo deshalb alle Menschen, drei Mal pro Jahr. Die Krankheit ist dann vorerst geheilt und die Menschen sind nicht mehr ansteckend – infizieren können sie sich trotzdem.
„Wenn wir den Leuten sagen, sie sollen das Seewasser nicht mehr benutzen, müssen wir ihnen auch eine Alternative bieten“, betont Müller. Das Bugando-Krankenhaus in Mwanza arbeitet seit über 20 Jahren mit der Tropenklinik in Würzburg zusammen, auch in der Ausbildung von medizinischem Personal. Mit Spendengeldern aus Deutschland haben die beiden Ärzte auf Ijinga acht Brunnen gebaut. Für die Trockenzeit, in der die Brunnen versiegen, hat er einige 5000-Liter-Tanks auf dem Schulgelände aufstellen lassen, die zuvor das Regenwasser von den Dächern aufgefangen haben. Demnächst soll ein solarbetriebenes Pumpsystem am Strand errichtet werden, das Seewasser abpumpt und zunächst durch eine Filteranlage, dann durch dicke Leitungen in einen 120 000Liter-Wassertank auf einen hohen Felsen der Insel befördert. Das gereinigte Wasser könne von dort aus wiederum in jedes der fünf Dörfer geleitet werden. Die Stadt Würzburg hat dafür Fördermittel beantragt und für die Bauarbeiten 162 000 Euro vom deutschen Entwicklungsministerium erhalten.
Auf Ijinga hat sich schon viel verändert. „Hier war wirklich jeder krank“, sagt Julius Ncheyeki, Rektor der Schule. „Die Kinder hatten ständig Fieber und Bauchweh. Im Unterricht wirkten sie abwesend und hatten große Schwierigkeiten, sich irgendwas zu merken.“Seit die Ärzte zum ersten Mal auf die Insel kamen, fiel die Zahl der BilharzioseInfizierten auf Ijinga immerhin von 95 Prozent auf zehn Prozent. „Wir hoffen, dass wir in zehn Jahren die Geschichte einer Ausrottung erzählen können“, sagt Mazigo. Mit den Daten, die sie hier erheben, wollen die beiden Ärzte zeigen: Die Bekämpfung der Bilharziose ist erschwinglich und im großen Maßstab möglich. Für einen Folgeversuch auf der Insel Ukarewe konnten sie bereits 2,5 Millionen Euro von der Else Kröner-Fresenius Stiftung einwerben. Es ist die Insel, auf der Mazigo als Kind die Ferien verbrachte. Sie ist 47 Kilometer lang, 21 Kilometer breit und dort leben mehr als 300 000 Menschen.