Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
SPD will zwölf Euro Mindestlohn
Von einer Erhöhung könnten etwa 6,8 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland profitieren
BERLIN - Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl haben Arbeitsminister Hubertus Heil und Finanzminister Olaf Scholz (beide SPD) ein Eckpunktepapier vorgelegt, um ab 2022 den Mindestlohn auf mindestens zwölf Euro brutto pro Stunde zu erhöhen. Derzeit beträgt er 9,50 Euro. Außerdem wollen sie die Bindung an Tarifverträge stärken, indem sie öffentliche Aufträge von der Zahlung von Tariflöhnen abhängig machen.
„Die seit Jahren rückläufige Tarifbindung und der zu langsame Anstieg des Mindestlohns zeigen Handlungsbedarf“, begründeten sie ihren Vorstoß. Der Mindestlohn war am 1. Januar 2015 eingeführt worden. Seine Höhe wird regelmäßig von der unabhängigen Mindestlohnkommission überprüft, in der Vertreter von Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie Wissenschaftler sitzen. Sie hat bereits festgelegt, dass er bis zum 1. Juli 2022 stufenweise auf 10,45 Euro steigt.
Eine im November 2020 vorgelegte wissenschaftliche Untersuchung habe gezeigt, „dass in wirtschaftlich guten Zeiten Spielräume für eine stärkere Anhebung des Mindestlohns nicht genutzt wurden“, erklärten Heil und Scholz. Sie wollen zwar an der Mindestlohnkommission festhalten. Diese soll sich aber nicht nur an der Entwicklung der Tariflöhne orientieren, sondern auch „den Gesichtspunkt der Armutsgefährdung maßgeblich berücksichtigen“. Als Mindestbetrag nennen sie 60 Prozent des mittleren Lohns in Deutschland.
Aktuell ergäbe das einen Mindestlohn von 12,21 Euro, so das Ergebnis einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Aktuell liege dieser nur bei 45,6 Prozent des mittleren Lohns. Damit belege Deutschland unter den EUMitgliedern einen Platz in der unteren Hälfte. Nicht nur Frankreich und Portugal stehen mit einem Mindestlohn von über 60 Prozent des jeweiligen mittleren Lohns besonders gut da, sondern auch Bulgarien.
Von einer Erhöhung könnten etwa 6,8 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland profitieren, so die Berechnungen der Böckler-Stiftung.
Die Einführung des Mindestlohns 2015 hatte bereits etwa vier Millionen bessergestellt. Bei Frauen ist der Niedriglohnanteil doppelt so hoch wie bei Männern.
Der Mindestbetrag von zwölf Euro wurde in der Vergangenheit auch häufig damit begründet, so viel sei erforderlich, um im Alter eine Versorgung über der Grundrente sicherzustellen. Das schafft ein Arbeitnehmer nach 45 Berufsjahren mit einer 38,5-Stunden-Woche. Die Schwelle von 60 Prozent hat ebenfalls die EUKommission im Auge, die eine Richtlinie für alle EU-Staaten plant. Allerdings ist umstritten, ob sie hierfür überhaupt zuständig ist.
Außerdem wollen Heil und Scholz, dass Feiertags- und Sonntagszuschläge nicht mehr auf den Mindestlohn angerechnet werden. Zudem wollen sie Ausnahmen vom Mindestlohn für Langzeitarbeitslose und Jugendliche unter 18 ohne abgeschlossene Berufsausbildung abschaffen. Der Zoll soll die Einhaltung besser kontrollieren. Um die Bindung an Tarifverträge wieder zu erhöhen, sollen Bund, Länder und Kommunen Aufträge nur noch an Betriebe vergeben dürfen, die nach Tarif bezahlen. Wo es keinen Tarifvertrag gibt, sollen mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns gezahlt werden.
Mit dem Koalitionspartner CDU/ CSU ist eine Gesetzesänderung vor der Bundestagswahl nicht zu machen. Der Staat solle in die Entscheidung der Mindestlohnkommission nicht eingreifen, sagte ihr arbeitsmarktpolitischer Sprecher Peter Weiß der „Schwäbischen Zeitung“. Es sei wenig glaubwürdig, dass sie unabhängig sein solle, der Staat aber ihr Vorgaben machen wolle. Schon heute sei sie frei, auch einen Mindestlohn
von zwölf Euro festzulegen.
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) lehnte die Pläne nachdrücklich ab. „Die SPD zerrt den Mindestlohn in die Wahlkampfarena“, kritisierte ihr Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. „Das ist für eine verantwortliche Volkspartei keine erfolgreiche Strategie, denn sie kann nie so populistisch sein mit der Lohnhöhe wie die Populisten von links und rechts.“
Tarifautonomie, Stärkung von Tarifbindung, Sozialpartnerschaft und Respekt vor Tarifverträgen würden „voreilig und kurzsichtig einem taktischen Kalkül geopfert“, so Kampeter. Dagegen begrüßte DGB-Chef Reiner Hoffmann die Pläne: „Wir fordern seit Langem einen armutsfesten Mindestlohn von zwölf Euro als unterste Haltelinie.“