Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Landeskirche klärt Missbrauchsserie auf
Verdacht auf Taten und Vertuschung in den 1950er- und -60er-Jahren – Studie startet
STUTTGART/ULM - Die evangelische Landeskirche in Württemberg will ihr Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt weiter ausbauen und gleichzeitig eine Missbrauchsserie aufarbeiten, die sich in den 1950erund -60er-Jahren zugetragen haben soll: Die Untersuchung der Universitätsklinik Ulm zu dieser Serie ist auf drei Jahre angelegt. Die Landeskirche wolle wissen, was damals geschehen ist, weshalb die Fälle seinerzeit nicht öffentlich wurden und daraus für die Gegenwart lernen, sagte der Direktor im Evangelischen Oberkirchenrat, Stefan Werner, am Mittwoch in Stuttgart.
Wer hat was gewusst? Wer hat was vertuscht? Und warum? Gab es ein Netzwerk? Und warum ist den Hinweisen auf die Missbrauchsserie seinerzeit nicht oder nicht entschieden nachgegangen worden? Stefan Werner ist der juristische Stellvertreter des Landesbischofs und wirkt am Mittwochmittag angefasst. Denn es brauchte rund 30 Hinweisgeber, bis jetzt, erst 60 bis 70 Jahre nach den Taten, der angeblich massenhafte Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen aufgeklärt werden soll. „Wir haben Hinweise darauf erhalten, dass es in den 1950er- und -60er-Jahren einen Unternehmer, einen großen Mäzen der Landeskirche gab, der seine Möglichkeiten dafür genutzt haben soll, gegenüber Kindern und Jugendlichen übergriffig zu werden“, sagt Werner.
Die Opfer seien ausschließlich Jungen gewesen, der Mann habe seine Opfer angeworben und mit Bargeld gefügig gemacht. „Trifft das zu, was wir vermuten, haben wir es mit einem regelrecht strategischen Vorgehen des Täters zu tun“, sagt Werner. Diese Serie habe sich an verschiedenen Orten zugetragen: „In den evangelischen Seminaren Maulbronn und Blaubeuren, bei Reisen des Stuttgarter Hymnus-Chores, bei Freizeiten auf dem Gelände des CVJM Esslingen.“Dem bestens vernetzten Mann sei aber nichts geschehen, bis er eines Tages von der Bildfläche verschwunden sei. Er sei mittlerweile verstorben.
Ebenso betroffen wirkt Ursula Kress von der landeskirchlichen Anlaufstelle für sexualisierte Gewalt. Sie weiß zu berichten, dass „rund um jenen Mäzen Unstimmigkeiten wahrgenommen wurden und er daraufhin von der Leitung der Sommerlager entbunden wurde. Es muss etwas bekannt gewesen sein, denn so schnell, wie er gekommen ist, war er auch wieder weg.“Ein mutmaßlich zweiter Täter „aus dem Dunstkreis des Mäzens wurde wegen Kuppelei, wie es damals hieß, rechtskräftig verurteilt“. Der Mann sei ebenfalls verstorben.
Jetzt wollen Werner und Kress wissen, „warum die Täter über Jahre ein strategisches System aufbauen konnten und die Landeskirche ausnutzen konnten“. Und sie fragen:
„Gab es Mitwisser? Wer hat zu welchem Zeitpunkt welche Informationen gehabt?“
Die evangelische Kirche hat sich für professionelle Hilfe entschieden und eine Studie in Auftrag gegeben: Deren Leiterin, Juniorprofessorin Miriam Rassenhofer von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm, will vor allem Opfer zu Wort kommen lassen, ihnen Forum und Stimme geben: „Sie erhalten die Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen, und wir damit die Möglichkeit, anhand ihrer Erfahrungen und durch ihre Perspektive zu verstehen, was passiert ist.“
Rassenhofer ruft dazu auf, „dass sich Betroffene und Zeitzeugen, die zum Projekt beitragen wollen, melden.“Zusätzlich zu den Gesprächen werden die Forscher in Quellen und Archiven recherchieren, um Zusammenhänge und Abläufe zu rekonstruieren und das Geschehene in den historischen Kontext einzuordnen. Erst dann werde sich der Blick auf Machtverhältnisse, Netzwerke, Mentalitäten und Rituale richten, die Missbrauch begünstigten.
Das zweite Teilprojekt umfasst die Evaluation des Kinderschutzes in heutigen Einrichtungen der Landeskirche, konkret den beiden Evangelischen Seminaren, dem HymnusChor und dem CVJM Esslingen, und steht unter dem Schlagwort „Prävention“. 300 000 Euro soll die Studie kosten. Die Ergebnisse sollen in aktuelle Schutzkonzepte einfließen. Es müssten Wege gefunden werden, wie junge Menschen heute und künftig besser vor Übergriffen geschützt werden könnten, sagt Werner. „Für uns ist ganz klar: Wir wollen wissen, was geschah. Wir wollen daraus lernen. Und wir wollen das transparent gestalten.“
In der württembergischen Landeskirche gibt es seit 2015 eine „Unabhängige Kommission“unter Vorsitz des Stuttgarter Richters a. D. Wolfgang Vögele, bei der sich mittlerweile rund 150 Betroffene sexualisierter Gewalt gemeldet haben. Von ihnen erlebten 15 Gewalt durch Pfarrer oder Pfarrerinnen, die meisten aber in Heimen der Diakonie. Einer der Fälle veranlasste die Kommission zu weiteren Recherchen, die nun zu den etwa 30 Betroffenen aus dem Umfeld der Evangelischen Seminare führten. Die Betroffenen haben eine sogenannte Anerkennungsleistung von 5000 Euro bekommen. Insgesamt hat die Landeskirche gut 900 000 Euro für die direkte Unterstützung Betroffener ausgegeben.