Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Das Wirecard-Geld und der Barbesitzer
Es war offenbar leicht, die Kontrolleure von Ernst & Young hinters Licht zu führen
BERLIN - Der bislang größte Wirtschaftsskandal ist mit einem Rätsel verbunden: Warum hat keine der zahlreichen Institutionen zur Wirtschaftsaufsicht etwas von dem Betrug bei der Wirecard AG gemerkt? Neben den Behörden, die hier komplett versagt haben, steht die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) im Mittelpunkt des Interesses. Sie hat dem Unternehmen zehn Jahre lang eine weiße Weste bescheinigt – obwohl Umsatz und Gewinn vor allem auf Scheingeschäften beruhten. Der zuständige Untersuchungsausschuss des Bundestags wollte diesem Teil des Rätsels am Freitag auf den Grund gehen und befragte die Verantwortlichen bei EY.
Hubertus Barth, der Ex-Deutschlandchef von EY, wies, wie fast alle anderen Zeugen vor dem Ausschuss, zunächst alle Schuld von sich: „Der Fall Wirecard ist ein einzigartiger Fall“, die Firmenspitze von Wirecard habe aus Kriminellen bestanden, „die alle anderen getäuscht und betrogen haben“. Aufschlussreicher war die Aussage von Christian Orth, dem Manager, der bei EY für die Kontrolle über die Abschlussprüfung bei Wirecard zuständig war. Wirecard hat demnach gegenüber EY eine ganze Reihe von Tricks angewandt, um mit dem Milliardenbetrug durchzukommen. Die an sich sehr dürftige Bilanz des Unternehmens wurde vor allem von Treuhandkonten in Asien gestützt, auf denen angeblich 1,9 Milliarden Euro lagerten. Wirecard hatte sich eine gute Erklärung dafür zurechtgelegt: Die Geschäftspartner von Wirecard verlangten es so.
Wirecard wickelt Zahlungen ab. Den Kontakt zu Endkunden wie Onlineshops und echten Läden übernahmen dabei jedoch „Drittpartner“in den Zielmärkten. Diese wollten das Geld nicht direkt an den Konzern im fernen Deutschland überweisen, sondern erst in neutralen Händen in Singapur zwischenlagern, falls sich noch Unstimmigkeiten ergeben, behauptete Wirecard gegenüber Orth. Wegen des gewaltigen Volumens der Zahlungsströme standen in diesem Zwischenbecken für Zahlungsabwicklung dann 1,9 Milliarden Euro.
Im Rückblick stellen sich hier allerdings zahllose Fragen. Sind 1,9 Milliarden Euro nicht eine absurd hohe Summe für einen Treuhandvorgang? Ist diese Praxis in der Zahlungsabwicklung überhaupt üblich? Warum haben die Prüfer sich nicht überzeugt, ob das Geld wirklich vorhanden ist? Die Antworten, die Orth lieferte, blieben alle unbefriedigend.
Die Notwendigkeit zur Zwischenlagerung des angeblich gewaltigen Vermögens bei einem Treuhänder glaubte EY den Wirecard-Managern einfach, ohne weiter nachzubohren. Eine harte Bestätigung für die Existenz der Summe holten die Prüfer nicht ein. Rein formaljuristisch reichte wohl eine Bestätigung des Treuhänders, dass das Geld da sei. Die lieferte eine etwas windige Firma in Singapur brav Jahr für Jahr auf ihrem Briefpapier.
Am Tag zuvor war bei der Befragung des ehemaligen Chefbuchhalters von Wirecard, Stephan Freiherr von Erffa, bekannt geworden, wie viel das Unternehmen an EY für einen Jahresabschluss bezahlt hat: zwei bis drei Millionen Euro für rund 25 000 Stunden Arbeit. In diesen 25 000 Stunden war, wenn Orths Aussage richtig ist, keinem in dem Heer von Prüfern etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Zum Beispiel, dass der Treuhänder ein windiger Kleinunternehmer war. R. Shanmugaratnam betreibt eine Bar, bietet aber auch Buchhaltungsdienste und offenbar den Betrieb von Scheinfirmen an. Seine Klitsche, Citadelle Corporate Services, hatte zudem offenbar gar keine Lizenz als Finanztreuhänder. Diesem Barbesitzer und seiner Kleinfirma hatte ein Dax-Konzern angeblich ein Milliardenvermögen anvertraut.
Als der Wirecard-Aufsichtsrat im Januar 2020 einen neuen Chef erhielt, brachte dieser das Kartenhaus innerhalb weniger Wochen zum Einsturz: Thomas Eichelmann bestand darauf, den tatsächlichen Inhalt der fraglichen Konten kontrollieren zu lassen. Das berichtete er dem Ausschuss in der Nacht von Donnerstag auf Freitag. Zusammen mit Wirtschaftsprüfern leitete er die Nagelprobe ein: eine Probeüberweisung von Singapur auf ein Firmenkonto in Deutschland. Wirecard teilte plötzlich mit, die Milliarden seien jetzt nicht mehr in Singapur, sondern auf den Philippinen. Jetzt merkte auch EY, dass etwas nicht stimmte. „Das ist für mich ein Wendepunkt gewesen“, sagte Orth. Nur war es da längst viel zu spät.