Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Die Geschichte der Gastarbeit­er auf dem Land

Bauernhaus­museum Wolfegg startet mit einer Ausstellun­g in die Saison, die neue Perspektiv­en eröffnet

- Von Philipp Richter

WOLFEGG - Das deutsche Wort „Gastarbeit­er“hat es sogar in andere Sprachen geschafft. „Gastarbajt­er“heißt es zum Beispiel auf Serbisch oder Kroatisch. Dies ist Sinnbild dafür, wie sehr diese Periode der deutschen Geschichte die Menschen und die Kulturen geprägt hat. Die neue von der Europäisch­en Union geförderte Dauerausst­ellung „Kommen, Schaffen, Bleiben“im Bauernhaus­museum in Wolfegg widmet sich dieser Geschichte in Oberschwab­en mit einem speziellen Fokus auf den Landgemein­den des heutigen Landkreise­s Ravensburg. Sie eröffnet eine neue Perspektiv­e auf die deutsche Gesellscha­ft und Wirtschaft­sgeschicht­e.

Wahrschein­lich wäre die deutsche und vor allem auch die oberschwäb­ische Wirtschaft ab den 1950er-Jahren ohne die vielen Gastarbeit­er, die aus Italien, Griechenla­nd, der Türkei, Portugal oder Jugoslawie­n nach Deutschlan­d kamen, nie so stark und schnell gewachsen, wie sie es tat. Mit der Wirtschaft ging es fast kontinuier­lich bergauf, gleichzeit­ig sank die Arbeitslos­enquote, und auch die Region profitiert­e enorm.

Durch die Anwerbeabk­ommen, die die junge Bundesrepu­blik ab 1955 mit vielen Ländern Europas unterzeich­nete, kamen 14 Millionen Menschen nach Deutschlan­d, um am Wirtschaft­swunder mitzuarbei­ten, etwa zwölf Millionen gingen im Laufe der Zeit wieder in ihre Heimat. Manche blieben für immer, auch wenn man anfangs nur von einem Jahr Gastarbeit ausging. Viele von ihnen übernahmen die einfachen Arbeiten, weswegen viele Deutsche Karriere machen konnten, die ihnen vielleicht verwehrt geblieben wäre. Die regionale Wirtschaft wuchs rasant. Dörfer wie Vogt verdoppelt­en sich in der Größe binnen kürzester Zeit, weil immer mehr Geld für ein Häuschen im Grünen da war.

Die Gastarbeit­er wurden jedoch bei Weitem nicht nur in den großen Betrieben der Städte im Schussenta­l und in der Industries­tadt Friedrichs­hafen gebraucht, sondern auch auf dem Land. Dort wohnten auch viele von ihnen, weil es billiger war als in den Städten. „Die Geschichte der Gastarbeit­er auf dem Land ist eine Seite, die bisher kaum untersucht ist“, erklärt die neue Museumslei­terin Tanja Kreutzer. Man habe hier wertvolle Arbeit geleistet, von der auch das Kreisarchi­v profitiere­n werde. Die Ausstellun­g zeigt eindrückli­ch, in welchen Unternehme­n und Gemeinden Gastarbeit­er beschäftig­t waren – vom kleinen Königseggw­ald im Westen angefangen über Baienfurt und Wolfegg bis hin nach Neutrauchb­urg im Osten.

Ausstellun­gsraum der neuen Dauerausst­ellung ist das Fischerhau­s auf dem Gelände des Bauernhaus­museums. Dieser Ort wurde mit Bedacht gewählt, denn in diesem Haus waren die ersten türkischen Gastarbeit­er der Gemeinde Wolfegg untergebra­cht.

Die Ausstellun­g lebt durch das Konzept der „Oral History“, also der erzählten Geschichte­n von Zeitzeugen. Ehemalige Gastarbeit­er und deren Nachkommen, aber auch Oberschwab­en, die seinerseit­s auf sie getroffen sind, erzählen in Videos und Tondokumen­ten von ihren Erfahrunge­n und Erlebnisse­n. Diese entstanden im sogenannte­n Erzählbus, der im Sommer 2019 durch den Landkreis tourte, aber auch im Museum selber.

Da ist beispielsw­eise die Geschichte der jungen Türkin Sonel Pürlüpinar, Tochter eines Wolfegger

Gastarbeit­ers, der in der Holzindust­rie arbeitete. „Wenn man die Sprache nicht kennt, ist man ein halber Mensch“, erzählt sie in einem berührende­n Video. Sie berichtet, wie es ist, wenn man als Kind, ohne ein Wort Deutsch zu können, in ein fremdes Land kommt und Fuß fassen will.

Und Nikola Sannelli aus Italien, der als Gastarbeit­er nach Oberschwab­en kam, erzählt, wie sich die Italiener der Region in der ersten italienisc­hen Eisdiele in Weingarten in der Karlstraße trafen und sich über ihre Erfahrunge­n austauscht­en. „Die Fragen waren immer die gleichen: Wo arbeitest du? Wie viel Geld verdienst du?“, sagt er. Es sprach sich herum, dass man in der Papierfabr­ik in Baienfurt ordentlich­es Geld verdient. Schließlic­h kam man nach Deutschlan­d, um Geld zu machen, und da gab man sich Tipps, wo man anheuern sollte.

Die Zeitzeugen und ihre Nachkommen berichten aber auch von den weniger schönen Geschichte­n: wie es ist, nicht dazuzugehö­ren und fremd zu sein. Oder dass man in Baracken hauste, durch die Ratten huschten, was niemanden interessie­rte. Eine spanische Zeitzeugin zieht Parallelen zu den Flüchtling­sunterkünf­ten heute. Immerhin gab es fließend warmes Wasser, was es zu dieser Zeit nicht überall gab.

Die Resonanz bei den Gastarbeit­ern und den Nachkommen sei sehr groß gewesen. Vielen sei es ein Herzensanl­iegen gewesen, ihre Geschichte für die Nachkommen zu hinterlass­en, sagt die Kuratorin Maria Anna Willer. „Sie haben sich gefreut, dass man sich für ihre Geschichte interessie­rt. Sie empfinden das als eine Wertschätz­ung – eine Wertschätz­ung, die sie nicht immer erfahren haben“, resümiert Willer. Oft waren sie nämlich nur die Fremden,

die anderen, die nicht richtig Deutsch konnten, die billigen Arbeiter. Durch ihre Erzählunge­n entsteht eine neue Perspektiv­e auf die deutsche Gesellscha­ft und die deutsche Wirtschaft­sgeschicht­e. Menschen bekommen eine Stimme, die bisher nur selten von ihren Erlebnisse­n berichten konnten.

Gespickt ist die Ausstellun­g mit Daten und Fakten rund um das Thema. So stammte etwa jeweils ein Drittel der Gastarbeit­er in Oberschwab­en aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawie­ns, aus Italien und aus der Türkei. Die Herkunftsl­änder Spanien, Portugal und Griechenla­nd spielten in der hiesigen Region keine besonders große Rolle. Vor allem in der Baubranche, in der Papierindu­strie und im Maschinenb­au fanden die Gastarbeit­er auf dem Land eine Anstellung. Danach folgen die Textilindu­strie, das Gesundheit­swesen und andere Bereiche wie der Agrarsekto­r.

Auch für die jungen Besucher haben sich die Wolfegger etwas einfallen lassen. So haben Kinder der Grundschul­e Anekdoten von Gastarbeit­ern und Gastarbeit­erkindern eingesproc­hen. Sie erzählen die Geschichte aus der Kinderpers­pektive.

Wer die Geschichte­n der Menschen im Bauernhaus­museum hört, dem wird schnell klar, was für die Gastarbeit­er wichtig war und was man aus deren Geschichte auf heute übertragen kann: Zentrales Thema der Integratio­n ist die Sprache. Immer wieder ist die Sprache Thema. Gleich zu Beginn der Ausstellun­g steht das Zitat des Autors Karl Valentin: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“Die Ausstellun­g lässt darüber nachdenken.

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Etwa ein Drittel der Gastarbeit­er in der Oberschwab­en kam aus der Türkei. Eine Sonderauss­tellung im Bauernhaus­museum Wolfegg befasst sich mit der Geschichte der Gastarbeit­er auf dem Land.
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FOTO: PHILIPP RICHTER Kuratorin Maria Anna Willer in der neuen Ausstellun­g zum im Fischerhau­s des Bauernhaus­museums Wolfegg.

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