Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Die Geschichte der Gastarbeiter auf dem Land
Bauernhausmuseum Wolfegg startet mit einer Ausstellung in die Saison, die neue Perspektiven eröffnet
WOLFEGG - Das deutsche Wort „Gastarbeiter“hat es sogar in andere Sprachen geschafft. „Gastarbajter“heißt es zum Beispiel auf Serbisch oder Kroatisch. Dies ist Sinnbild dafür, wie sehr diese Periode der deutschen Geschichte die Menschen und die Kulturen geprägt hat. Die neue von der Europäischen Union geförderte Dauerausstellung „Kommen, Schaffen, Bleiben“im Bauernhausmuseum in Wolfegg widmet sich dieser Geschichte in Oberschwaben mit einem speziellen Fokus auf den Landgemeinden des heutigen Landkreises Ravensburg. Sie eröffnet eine neue Perspektive auf die deutsche Gesellschaft und Wirtschaftsgeschichte.
Wahrscheinlich wäre die deutsche und vor allem auch die oberschwäbische Wirtschaft ab den 1950er-Jahren ohne die vielen Gastarbeiter, die aus Italien, Griechenland, der Türkei, Portugal oder Jugoslawien nach Deutschland kamen, nie so stark und schnell gewachsen, wie sie es tat. Mit der Wirtschaft ging es fast kontinuierlich bergauf, gleichzeitig sank die Arbeitslosenquote, und auch die Region profitierte enorm.
Durch die Anwerbeabkommen, die die junge Bundesrepublik ab 1955 mit vielen Ländern Europas unterzeichnete, kamen 14 Millionen Menschen nach Deutschland, um am Wirtschaftswunder mitzuarbeiten, etwa zwölf Millionen gingen im Laufe der Zeit wieder in ihre Heimat. Manche blieben für immer, auch wenn man anfangs nur von einem Jahr Gastarbeit ausging. Viele von ihnen übernahmen die einfachen Arbeiten, weswegen viele Deutsche Karriere machen konnten, die ihnen vielleicht verwehrt geblieben wäre. Die regionale Wirtschaft wuchs rasant. Dörfer wie Vogt verdoppelten sich in der Größe binnen kürzester Zeit, weil immer mehr Geld für ein Häuschen im Grünen da war.
Die Gastarbeiter wurden jedoch bei Weitem nicht nur in den großen Betrieben der Städte im Schussental und in der Industriestadt Friedrichshafen gebraucht, sondern auch auf dem Land. Dort wohnten auch viele von ihnen, weil es billiger war als in den Städten. „Die Geschichte der Gastarbeiter auf dem Land ist eine Seite, die bisher kaum untersucht ist“, erklärt die neue Museumsleiterin Tanja Kreutzer. Man habe hier wertvolle Arbeit geleistet, von der auch das Kreisarchiv profitieren werde. Die Ausstellung zeigt eindrücklich, in welchen Unternehmen und Gemeinden Gastarbeiter beschäftigt waren – vom kleinen Königseggwald im Westen angefangen über Baienfurt und Wolfegg bis hin nach Neutrauchburg im Osten.
Ausstellungsraum der neuen Dauerausstellung ist das Fischerhaus auf dem Gelände des Bauernhausmuseums. Dieser Ort wurde mit Bedacht gewählt, denn in diesem Haus waren die ersten türkischen Gastarbeiter der Gemeinde Wolfegg untergebracht.
Die Ausstellung lebt durch das Konzept der „Oral History“, also der erzählten Geschichten von Zeitzeugen. Ehemalige Gastarbeiter und deren Nachkommen, aber auch Oberschwaben, die seinerseits auf sie getroffen sind, erzählen in Videos und Tondokumenten von ihren Erfahrungen und Erlebnissen. Diese entstanden im sogenannten Erzählbus, der im Sommer 2019 durch den Landkreis tourte, aber auch im Museum selber.
Da ist beispielsweise die Geschichte der jungen Türkin Sonel Pürlüpinar, Tochter eines Wolfegger
Gastarbeiters, der in der Holzindustrie arbeitete. „Wenn man die Sprache nicht kennt, ist man ein halber Mensch“, erzählt sie in einem berührenden Video. Sie berichtet, wie es ist, wenn man als Kind, ohne ein Wort Deutsch zu können, in ein fremdes Land kommt und Fuß fassen will.
Und Nikola Sannelli aus Italien, der als Gastarbeiter nach Oberschwaben kam, erzählt, wie sich die Italiener der Region in der ersten italienischen Eisdiele in Weingarten in der Karlstraße trafen und sich über ihre Erfahrungen austauschten. „Die Fragen waren immer die gleichen: Wo arbeitest du? Wie viel Geld verdienst du?“, sagt er. Es sprach sich herum, dass man in der Papierfabrik in Baienfurt ordentliches Geld verdient. Schließlich kam man nach Deutschland, um Geld zu machen, und da gab man sich Tipps, wo man anheuern sollte.
Die Zeitzeugen und ihre Nachkommen berichten aber auch von den weniger schönen Geschichten: wie es ist, nicht dazuzugehören und fremd zu sein. Oder dass man in Baracken hauste, durch die Ratten huschten, was niemanden interessierte. Eine spanische Zeitzeugin zieht Parallelen zu den Flüchtlingsunterkünften heute. Immerhin gab es fließend warmes Wasser, was es zu dieser Zeit nicht überall gab.
Die Resonanz bei den Gastarbeitern und den Nachkommen sei sehr groß gewesen. Vielen sei es ein Herzensanliegen gewesen, ihre Geschichte für die Nachkommen zu hinterlassen, sagt die Kuratorin Maria Anna Willer. „Sie haben sich gefreut, dass man sich für ihre Geschichte interessiert. Sie empfinden das als eine Wertschätzung – eine Wertschätzung, die sie nicht immer erfahren haben“, resümiert Willer. Oft waren sie nämlich nur die Fremden,
die anderen, die nicht richtig Deutsch konnten, die billigen Arbeiter. Durch ihre Erzählungen entsteht eine neue Perspektive auf die deutsche Gesellschaft und die deutsche Wirtschaftsgeschichte. Menschen bekommen eine Stimme, die bisher nur selten von ihren Erlebnissen berichten konnten.
Gespickt ist die Ausstellung mit Daten und Fakten rund um das Thema. So stammte etwa jeweils ein Drittel der Gastarbeiter in Oberschwaben aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, aus Italien und aus der Türkei. Die Herkunftsländer Spanien, Portugal und Griechenland spielten in der hiesigen Region keine besonders große Rolle. Vor allem in der Baubranche, in der Papierindustrie und im Maschinenbau fanden die Gastarbeiter auf dem Land eine Anstellung. Danach folgen die Textilindustrie, das Gesundheitswesen und andere Bereiche wie der Agrarsektor.
Auch für die jungen Besucher haben sich die Wolfegger etwas einfallen lassen. So haben Kinder der Grundschule Anekdoten von Gastarbeitern und Gastarbeiterkindern eingesprochen. Sie erzählen die Geschichte aus der Kinderperspektive.
Wer die Geschichten der Menschen im Bauernhausmuseum hört, dem wird schnell klar, was für die Gastarbeiter wichtig war und was man aus deren Geschichte auf heute übertragen kann: Zentrales Thema der Integration ist die Sprache. Immer wieder ist die Sprache Thema. Gleich zu Beginn der Ausstellung steht das Zitat des Autors Karl Valentin: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“Die Ausstellung lässt darüber nachdenken.