Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Bau auf Bewährung
Baden-Württemberg scheitert seit fast 50 Jahren daran, Gefängnisse aus dem vorletzten Jahrhundert zu ersetzen – Rottweil nutzt bis heute ein 150 Jahre altes Gebäude
ROTTWEIL - Das Land Baden-Württemberg benötigt dringend und möglichst schnell neue Haftplätze. Alle Hoffnungen ruhten auf einem Gefängnisneubau in Rottweil für 500 Insassen. Doch nach Planungen von nahezu 50 Jahren wird der Baubeginn immer weiter verschoben und die Kosten explodieren.
Es gibt Zeitgenossen, die behaupten, der sagenhafte Aufstieg von Winfried Kretschmann (Grüne) habe im Zepfenhaner Ochsen vor der Landtagswahl 2011 begonnen. Dazu muss man wissen, dass Zepfenhan ein Teilort von Rottweil ist und gemeinsam mit dem Nachbardorf Neukirch als Gefängnisstandort im „nahen Bitzwäldle“so gut wie feststand.
Angekündigt war für jenen Samstag im März eine „Kreismitgliederversammlung“der Grünen. Es wurde dann eine „Verhinderungsversammlung“von „Dagegen-Bürgern“, wie Kritiker spotteten.
Der Ochsen drohte aus allen Nähten zu platzen, dicht gedrängt saßen und standen Gefängnisgegner, Gegner einer Daimler-Teststrecke in Sulz am Neckar und Gegner einer Krankenhausschließung in Schramberg. Und mittendrin Wahlkämpfer Kretschmann, der eine Art Schwur ablegte: Wenn er an die Regierung komme, werde es einen neuen Suchlauf für das Gefängnis geben. versprach er. Das mit der Wahl klappte und die Belohnung folgte noch vor Einlösung des Versprechens: Die Grünen fuhren ein paar Tage später bei der Landtagswahl in den bis dato pechschwarzen Dörfern Zepfenhan und Neukirch Rekordergebnisse von 60 Prozent ein.
Prompt folgte dann auch ein neuer Suchlauf – mit weitreichenden Risiken und Nebenwirkungen: Das Projekt Gefängnisneubau geriet heftig ins Wanken, verteuerte sich um zig Millionen, ist bis heute ein Problemfall ersten Grades mit negativen Auswirkungen auf den Haftalltag. Jetzt ist ein ganz spezielles Jubiläum in Sicht: 50 Jahre Planung Justizvollzugsanstalt (JVA), denn nichts spricht dafür, dass der Neubau bis 2025 bezogen werden kann.
Bis dahin muss das alte Rottweiler Gefängnis weiterhin herhalten. Mitten in der Stadt und nur einen Steinwurf vom Münster in der Höllgasse gelegen und vor nunmehr genau 150 Jahren in Betrieb genommen. Wie es hinter den hohen Mauern und dem Stacheldraht aussieht, wissen nur wenige besser als Ursula Spreter. Nach 15 Jahren als Anstaltsrätin zieht sie ein alarmierendes Fazit: „Die Zustände sind nicht mehr menschenwürdig.“Gerade mal zehn Quadratmeter große Zellen seien oft mit zwei oder mehr Insassen auf Hochbetten belegt, obwohl der gesetzliche Anspruch längst eine Einzelzelle fordere. Nicht selten gebe es nur einen Vorhang als Abtrennung zur Toilette.
Ähnliche Zustände herrschen in den Haftanstalten Oberndorf, Hechingen, Villingen und WaldshutTiengen, die ebenfalls aus dem vorletzten Jahrhundert stammen. Der Neubau in Rottweil soll sie ersetzen und dann Südwürttemberg und Südbaden
abdecken. Eine möglichst baldige Fertigstellung sei schon deshalb nötig, weil die Häftlingszahlen stark gestiegen seien, erklärte ein Vertreter des Justizministeriums bereits vor geraumer Zeit dem Rottweiler Gemeinderat.
Die Stadt hat nie Zweifel daran gelassen, dass es an ihr nicht liegen soll. Schon 1975 wies der Gemeinderat einhellig über alle Parteigrenzen hinweg und auf Bitte des Landes im Industriegebiet an der B 14 Richtung Villingen-Schwenningen ein großes Grundstück für die JVA aus. Doch als dann zu Beginn der 2000er-Jahre endlich eine Bebauung anstand, zog die damalige CDU/FDP-Landesregierung 2008 völlig überraschend die Notbremse und erklärte den Standort für ungeeignet, weil der Gipsuntergrund ein zu großes Risiko bedeute. Alle Gegenargumente stießen auf Granit.
Und so folgte ein achtjähriger Suchlauf. Zunächst schieden drei Rottweiler Standorte aus, daraufhin Tuningen, Villingen-Schwenningen, Trossingen (alle entlang der A 81), schließlich Meßstetten – bis wieder Rottweil ins Spiel kam. Es war ausgerechnet ein Ort, der eigentlich bereits vorher aussortiert worden war: das Esch – idyllisch am Umlaufberg Neckarburg, in Sichtweite zur gleichnamigen Autobahnraststätte an der A 81 und auf der Gegenseite zum Thyssen-Krupp-Testturm gelegen. Diese Wahl mitten im Grünen stieß vor allem in Kreisen der Grünen auf heftige Widerstände. In unmittelbarer Näher des Baugrundstücks schließe sich ein Naturschutzgebiet an, argumentierten sieStattdessen hätte man doch lieber gleich das Bitzwäldle genommen, das ökologisch eine deutlich kleinere Bedeutung aufweise.
Doch da hatten Zepfenhan und Neukirch längst ganze Arbeit geleistet und nicht nur Winfried Kretschmann hinter sich gebracht, sondern auch in einem in Rottweil nie erlebten militanten Aufstand gedroht, notfalls alle Register zu ziehen. Schließlich zauberten sie auch noch ein bis dahin weithin unbekanntes Tierchen aus dem Hut, das im Bitzwäldle lebe und dringend geschützt werden müsse: die Gelbbauchunke, in Fachkreisen Bombina variegata genannt.
Auch die Fronten um den Standort Esch waren derart verhärtet, dass sich die Stadt zu einer Streitschlichtung in Form einer breiten Bürgerbeteiligung entschloss. Mit an vorderster Vermittlungsfront marschierte stets Gisela Erler, Staatsrätin der Grünen-Landesregierung, mit. Sie versuchte so auch, die widerborstige Ökoszene einzubinden, und versprach, „das schönste und modernste Gefängnis Deutschlands“zu bauen. Der Bürgerdialog mündete schließlich 2015 in den ersten Bürgerentscheid in der Geschichte der ältesten Stadt Baden-Württembergs. Ergebnis: Die Befürworter schafften nicht nur klar das Quorum, sondern mit 58,4 Prozent der Stimmen auch die Mehrheit. Prozentual trugen dazu mit am meisten Zepfenhan und Neukirch bei.
Die Stadt erhielt als Nebeneffekt noch „für vorbildliche Bürgerbeteiligung“einen „Demokratiepreis“. Das sollte dann aber für längere Zeit die letzte gute Nachricht sein. Erst kam es zu weiteren Verzögerungen, dann wurde 2017 bekannt, dass sich die Kosten von zunächst 80 Millionen Euro auf zwischenzeitlich 118 Millionen erhöht hatten. Der Rechnungshof erteilte eine Rüge und ließ anklingen, man hätte in diesem welligen Gebiet mit ungünstigem Grund gar nicht bauen dürfen.
Der Architektenentwurf schien ein Lichtblick zu sein. „Ich bin überrascht von der Schönheit“, schwärmte Staatsrätin Erler. Auch die ökologischen Belange seien gut gelöst. Doch es dauerte nicht lange, bis bekannt wurde, dass der Preis dafür noch höher war als zuletzt befürchtet. Jetzt kam plötzlich die Zahl 240 Millionen Euro ins Spiel. Das erschien insofern plausibel, als das zuständige Landesamt „Bau und Vermögen“in Konstanz schon bei den 182 Millionen von voraussichtlich zusätzlichen 20 Millionen Baupreissteigerungen sprach. Aus dem Traumgefängnis drohte jetzt endgültig ein Trauma zu werden.
Als wäre es nicht genug der Hiobsbotschaften, teilte das Finanzministerium im Februar völlig überraschend mit, das Land habe sich wegen „inhaltlicher Differenzen und damit einhergehender zeitlicher Verzögerungen vom Münchner Architektenbüro getrennt. Hier schließt sich der Kreis, zumindest vorerst, denn erneut fiel die Entscheidung den Grünen zu. Das Finanzministerium mit Edith Sitzmann an der Spitze, ist Bauherr des Gefängnisses. Ein Sprecher erklärte auf Anfrage, eine aussagekräftige Angabe zu den Kostensteigerungen sei erst möglich, wenn die Entwurfsplanung abgeschlossen sei. Bei den 182 Millionen Euro handle es sich deshalb um eine „grobe Schätzung“. Als Baubeginn sei das Jahr 2023 vorgesehen, erklärt der Sprecher und fügt hinzu, alles hänge noch von der Finanzierung im nächsten Haushaltsplan des Landes ab.
Könnte es also dazu kommen, dass „Deutschlands schönstes Gefängnis“gar nicht gebaut wird? Das könne er sich nicht vorstellen, sagt der Rottweiler Oberbürgermeister Ralf Broß (parteilos). Experten halten einen Baubeginn frühestens 2024 für möglich und gehen von einer mindestens dreijährigen Bauzeit aus.
Die Stadt Rottweil jedenfalls hat ihre Hausaufgaben erledigt und vor Kurzem den Bebauungsplan beschlossen. Und so werden seit ein paar Tagen erste vollendete Tatsachen geschaffen: Es laufen Erschließungsarbeiten und Rodungen am Rand der Neckarburg.