Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Ganz Paris träumt von der Sauberkeit
Tausende kämpfen in Paris gegen Dreck, Verfall und Bürgermeisterin Anne Hidalgo
PARIS - Leidenschaftlicher als Edith Piaf hat wohl niemand Paris besungen. Eine Stadt, die von Liebespaaren bevölkert und von Akkordeonmusik durchdrungen ist. Doch das romantische Paris von „la Piaf“gibt es heute kaum noch. In der Rue de Belleville, wo die Sängerin geboren ist, sind die Fassaden mit Graffiti verschandelt und neben den Mülltonnen stapelt sich der Abfall auf dem Boden. Billigläden verschandeln mit greller Leuchtreklame die Fassaden.
Wer sich anschauen will, wie Paris durch Dreck und Vernachlässigung entstellt wurde, muss nur im Kurznachrichtendienst Twitter nach dem Stichwort #saccageparis suchen. Zehntausende Nutzerinnen und Nutzer haben dort in einem Shitstorm Bilder gepostet, die jedem ParisLiebhaber wehtun. Zu sehen sind Ampeln, die notdürftig mit Klebeband zusammengeflickt wurden, dreckige Parkbänke, auf die sich keiner mehr setzen mag und heruntergekommene Blumenkübel, in denen das Unkraut wuchert. Dazu kommen Beschreibungen von Uringeruch, wie er beispielsweise rund um den Gare du Nord herrscht, wo ein offenes Pissoir steht.
Die Sauberkeit von Paris war schon im Kommunalwahlkampf im vergangenen Jahr ein Problem. Die Pariserinnen und Pariser nannten die „propreté“sogar als ihre größte Sorge, noch vor der Sicherheit. Dennoch bestätigten sie mit großer Mehrheit Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die in den vergangenen sechs Jahren den Dreck nicht in den Griff bekommen hatte. Zwar ließ die Sozialistin das Radwegenetz deutlich ausbauen. Doch die ramponierten gelben Pfosten und Betonblöcke, die sie dafür eilig aufstellen ließ, verschandeln Prachtstraßen wie die Avenue de l’Opéra. Was als Übergangslösung akzeptabel ist, wurde in Paris zum Dauerzustand.
Improvisation herrscht seit der Corona-Pandemie auch vor den Restaurants.
Die durften nämlich ihre Terrassen erweitern, um die Abstandsregeln einzuhalten. Verwitterte Holzpaletten stehen seither auf den Gehwegen, auch wenn die Gaststätten schon seit Monaten wieder geschlossen sind. Vielen Einwohnern wird diese Vernachlässigung ihrer Stadt zu viel. @panamepropre nennt sich der Aktivist, der deshalb vor einigen Wochen den Hashtag #saccageparis (Verwüstung Paris) schuf. Seine Identität will der Mittfünfziger nicht preisgeben, der sich keiner Partei zugehörig fühlt. Er hätte nicht damit gerechnet, dass seine Initiative einen solchen Erfolg hat. „Aber ich bin nicht überrascht. Ich konnte nicht der Einzige sein, der vom Verfall der Stadt schockiert ist“, sagte er der Zeitung „Le Parisien“. Die leistete vergangene Woche mit einem Foto des Bassin de la Villette, in dem Plastikflaschen und Verpackungen auf einem braunen Algenteppich treiben, ihren eigenen Beitrag zur allgemeinen Empörung. „Apokalyptisch“sei der Zustand des Hafenbeckens im Norden von Paris, hieß es dazu.
Der Opposition kommt die Kampagne für mehr Sauberkeit gerade recht. Die konservative Ex-Ministerin Rachida Dati forderte am Osterwochenende eine sofortige Sondersitzung des Stadtrates, der sich mit dem Problem befassen solle. Die Rechtspopulistin Marine Le Pen kritisierte Hidalgo, die die Hauptstadt herunterkommen lasse. Die Sozialistin, die sich als Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr in Stellung bringt, sieht sich ihrerseits als Ziel einer Hetzkampagne der Rechtsparteien. Auf Twitter reagierte die Stadtverwaltung mit der wenig plausiblen Erklärung, dass die Fotos der Müllberge entweder schon alt seien oder kurz vor der Ankunft der Stadtreinigung aufgenommen wurden. Einleuchtender ist der Verweis eines Stadtteil-Bürgermeisters auf die Pandemie-Regeln, die die Pariserinnen und Pariser zwingen, draußen zu essen, sodass dort die Müllberge anwachsen. Außerdem seien durch die Pandemie zehn Prozent weniger Reinigungskräfte im Einsatz. Mit insgesamt 2500 Bediensteten in grünen Anzügen ist Paris trotzdem noch gut aufgestellt. Zumindest theoretisch.