Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
In der Krise Job verloren: So schwierig ist die Rückkehr
Mann aus dem Kreis Ravensburg rutscht während der Corona-Pandemie in Hartz-IV – Kein Einzelfall
KREIS RAVENSBURG - Gerhard Sailer (Name von der Redaktion geändert) hat in seiner Kindheit mit seiner alleinerziehenden Mutter schon einmal von der Hand in den Mund gelebt. Dann kämpfte er sich aus den prekären Verhältnissen heraus. Doch mit über 60 Jahren zwingt die Corona-Krise den Mann aus dem Kreis Ravensburg nun zurück in dieses Gefühl: Gerhard Sailer hat gleich zu Beginn der Pandemie seinen Job verloren und bezieht jetzt Grundsicherung, Hartz-IV. Er ist kein Einzelfall. Wie viele Menschen durch die Pandemie ihre Arbeit verloren haben, lässt sich zwar nicht beziffern. Ein Sozialberater aus der Region kennt aber eine Menge solcher Beispiele und sieht eine Welle an Problemen auf die Gesellschaft zurollen.
Sailer hat in einem Reinigungsunternehmen gearbeitet, das gleich zu Beginn der Corona-Pandemie seinem Eindruck nach auf einen Schlag weniger Aufträge hatte. Er arbeitete auf Stundenlohn, wurde weniger eingesetzt und schließlich hat man ihm seinen Zeitvertrag nicht mehr verlängert. Für den Arbeitgeber hat er sogar noch auf gewisse Art Verständnis: „Man muss ja realistisch sein, die müssen Leute loswerden.“Er habe sich daraufhin um eine andere Arbeit bemüht. Doch erfolglos, auch wegen seines Alters, wie ihm gesagt worden sei.
Arbeitslosengeld bekam er nicht, weil er zuvor keine zwei Jahre am Stück gearbeitet hatte. Sailer war einst selbständig gewesen. Er erzählt, dass er in der Versicherungsbranche viel Geld verdient, aber wieder verloren habe. Er hatte ein kleines Unternehmen, bevor ihn eine Krankheit, unter deren Folgen er heute noch leidet, zur Aufgabe gezwungen hat. Ein dramatischer Abstieg, den er auch so empfindet.
Wie viele Arbeitnehmer aus der Region in der Krise ihre Jobs verloren haben, kann der Pressesprecher der Agentur für Arbeit Konstanz-Ravensburg, Walter Nägele, nicht sagen. Mal werde ein Vertrag nicht verlängert, mal werde betriebsbedingt gekündigt. Und schließlich verschieben Unternehmen die Suche nach neuen Mitarbeitern auf die Zeit nach der Pandemie. „Der Flaschenhals ist derzeit die Zahl der offenen Stellen“, so Nägele. Das erschwere die Vermittlung von Arbeitslosen.
Immerhin: Seit Januar 2021 seien in den drei Landkreisen Ravensburg, Bodensee und Konstanz rund 2000 Menschen wieder aus der Arbeitslosigkeit rausgekommen. Und Nägele sagt: „Wenn die Gastronomie irgendwann wieder öffnen darf, haben wir einen Schub.“Doch wer wie Sailer unter gesundheitlichen Probleme leidet, hat gerade jetzt noch größere Schwierigkeiten, eine neue Arbeitsstelle zu finden als sonst, wie Nägele bestätigt.
Als Gerhard Sailer bemerkte, dass es so gut wie aussichtslos für ihn ist, in der Krise eine Arbeit zu finden, stieg Panik in ihm auf. „Existenzängste sind was Furchtbares. Das macht den Selbstwert kaputt.“Wenn er was Schönes sehe, zum Beispiel ein Paar Schuhe in einem Schaufenster für 80 Euro, dann überlege er, wie lange er darauf sparen müsste. Ihm gehe es nicht darum, gedankenlos einzukaufen. Sondern darum, selbstbestimmt zu leben. Wenn er über die Zeit vor der Arbeitslosigkeit redet, sagt er häufiger „als ich noch ein Mensch war“. „Jetzt“, sagt er, „bin ich halt der Knecht“.
Gerd Gunßer, Leiter der Sozialen Beratung beim Diakonischen Werk
Oberschwaben/Allgäu/Bodensee, berichtet , dass die Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit bei seinen Klienten seit Beginn der Pandemie gestiegen ist. Er erzählt von „verschämter Armut“, die all jene betrifft, die vor der coronabedingten Jobkrise gerade noch so klar gekommen sind, zum Beispiel, weil sie mehrere Arbeitsstellen hatten, die jetzt aber finanzielle Hilfe brauchen. Gerade die „untere Mittelschicht“, so Gunßer, leide unter der Krise und Betroffene benötigten Hilfe. Viele Behörden hätten aber auf Telefonberatung umgestellt, was beim Ausfüllen von Anträgen aber an Grenzen stoße.
Mit der Angst vor Corona und den finanziellen Problemen gehen auch soziale Verwerfungen einher. „Die Leute verschwinden einfach. Aus dem Bild der Stadt, aus der Gesellschaft, aus dem Freundeskreis“, sagt Gunßer und bezieht sich auf die geltenden Kontaktbeschränkungen, die Treffen mehrerer Menschen aus verschiedenen Haushalten nicht erlauben.
Gunßer denkt schon an die Zeit „nach Corona“, an die Probleme, die sich in Beziehungen oder Familien aufgestaut haben. Er fordert, dass sich ein neues Verständnis für das soziale Gefüge als Fundament der Gesellschaft verbreiten müsse. Gunßer, der auch Mitglied der SPD ist, fordert außerdem mehr staatliche Fürsorge. „Das hat nichts mit Sozialismus zu tun“, sagt er, „nur mit Menschlichkeit“.
Er habe die Erfahrung gemacht, dass Klienten, die keine Geborgenheit mehr finden, „aus der Spur geraten“, wie er es nennt. Damit meine er zum Beispiel, dass sie empfänglich für Verschwörungsmythen werden. In der Beratung versuche er, auf solche Anzeichen sofort zu reagieren und entsprechende Behauptungen gerade zu rücken.
Auch Gerhard Sailer hält mit seiner Kritik nicht hinterm Berg. „Ich bin sicher kein Reichsbürger“, sagt er. „Aber in unserem Land stimmt vieles nicht.“Er habe zum Beispiel wenig Zuversicht, dass sich an himmelweiten Einkommensunterschieden etwas ändert. „Die, die an den Töpfen hocken, geben nichts freiwillig her“, ist sein Eindruck. Sailer muss noch Schulden abbezahlen und hat nach eigenen Angaben letztlich noch 423 Euro im Monat zur Verfügung. Er ist Vater eines Kindes, das nicht bei ihm lebt, mit dem er aber auch mal was unternehmen möchte. Der Blick auf seine zu erwartende Rente lässt ihn mit dem Kopf schütteln. „Wenig, ganz wenig“, weil er als Selbständiger nicht in die Rentenkasse eingezahlt habe. Einkaufsgutscheine der Diakonie hätten ihm schon weitergeholfen.
Wer jünger ist als Sailer und in der Krise die berufliche Perspektive verloren hat, könnte an Umschulung denken. Wie Nägele von der Agentur für Arbeit sagt, ist das aber für viele keine Option: „Die Leute stehen oft zu ihrem Job. Ein Koch will nicht in die Pflege gehen, und eine langjährige Verkäuferin in einem Modegeschäft ist eine Fachkraft, die zurecht dreimal überlegt, bevor sie den Job wechselt.“
Nägele sagt: „Der Gesundheitsund Pflegesektor wird momentan völlig zu Recht als Zukunftsbranche bezeichnet. Hier gibt es viele Ausbildungsund Arbeitsangebote, die auch langfristig krisensicher sind. Ebenso suchen Handwerk und Logistikberufe dringend Nachwuchsund Arbeitskräfte.“Für Gerhard Sailer ist das aufgrund seines Alters und der Krankheitsfolgen aber eher keine Option mehr.