Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Englische Nachwahl beschert Johnson einen Triumph
Historischer Verlust für Labour – Scharfe Kritik an Oppositionsführer Starmer
LONDON - Der Verlust eines Unterhaussitzes an die konservative Regierungspartei hat in der britischen Labour-Party heftige Kritik an der Parteispitze um Oppositionsführer Keir Starmer ausgelöst. Die Menschen im Land „wissen nicht mehr, wofür Labour eigentlich steht“, kritisierte der mächtige Gewerkschaftsführer Leonard McCluskey, ein Parteilinker und enger Vertrauter von Starmers Vorgänger Jeremy Corbyn. Dieser forderte eine „mutigere Vision“. Der auf dem rechten Flügel angesiedelte Lord Andrew Adonis sprach von einem „Mangel an Führungsstärke, Energie und Dynamik“; bei Starmer handele es sich um „einen Übergangsvorsitzenden“.
Die Nachwahl im nordenglischen Hartlepool war notwendig geworden, weil der bisherige Abgeordnete wegen des Vorwurfs der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz zurücktreten musste. Der Sitz war seit 1964 in der Hand der Arbeiterpartei. Diesmal entschieden sich 52 Prozent für die konservative Kandidatin Jill Mortimer, darunter auch viele jener Wähler, die im Dezember 2019 für die Brexit-Party von Nigel Farage gestimmt hatten. Sie sei für „positive Veränderung“eingetreten, sagte Mortimer nach der Auszählung am Freitag morgen. Und genau dafür hätten sich die Menschen in Hartlepool entschieden: „Es ist Zeit für Veränderung.“
Insgesamt waren am Donnerstag 48 Millionen Briten zur Wahl aufgefordert. Neu bestimmt wurden die beiden Regionalparlamente von Schottland und Wales sowie viele englische Kommunalregierungen und direkt gewählte Bürgermeister. Weil anders als in Hartlepool vielerorts die Auszählung der Stimmen erst am Freitagmorgen begann, äußerten sich Spitzenpolitiker zurückhaltend, wenn überhaupt. Premier Boris Johnson sprach am Freitag von „sehr vielversprechenden ersten Ergebnissen“für seine Partei, Oppositionsführer Starmer hielt sich von allen Mikrofonen fern.
Bis Freitagabend hatten lediglich 20 von insgesamt 143 Bezirke in England ihre Ergebnisse mitgeteilt. Auch dort überwogen die schlechten Nachrichten für die Opposition: Die Konservativen konnten vier Bezirksregierungen hinzugewinnen, darunter Harlow bei London sowie Redditch, Dudley und Nuneaton in den Midlands – allesamt Wahlkreise, die Labour gewinnen müsste, um bei der nächsten Unterhauswahl eine Chance zum Sieg zu haben.
In der Großstadt Doncaster schaffte hingegen die Labour-Bürgermeisterin die Wiederwahl. Ähnliches wurde ihren Kollegen in den Millionenstädten London und Manchester (beide Labour) und Birmingham (Tory) vorhergesagt. Auch in Wales (Labour) und Schottland (Nationalpartei SNP) sah es nach den ersten Auszählungen danach aus, als würden die amtierenden Regierungen im Amt bestätigt.
Für Starmer stellt der Mandatsverlust in Hartlepool ein „absolut niederschmetterndes“Resultat dar, räumte Labours kommunalpolitischer Sprecher Steven Reed ein. Wenig hilfreich dürfte gewesen sein, dass der Kandidat Paul Williams ein überzeugter Pro-Europäer ist. In Hartlepool aber hatten 2016 rund 70 Prozent der Wähler für den EU-Austritt gestimmt. Wie Williams wird seine gesamte Partei als unversöhnt mit dem Brexit angesehen. „Labour blieb stumm in der Hoffnung, dass die Wähler das Thema vergessen“, analysiert Professor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität. „Aber die Wähler sind noch nicht so weit.“
Für die Menschen in Hartlepool und vielen ähnlich strukturierten post-industriellen, verarmten Städten Englands hatte das EU-Referendum nur am Rande mit Brüssel zu tun. Vielmehr richtete sich der Aufschrei des Protestes an die Politikelite in London: Nehmt uns zur Kenntnis, tut etwas für uns.
Genau dies hat Johnson bei der Wahl 2019 der Bevölkerung versprochen, erste Projekte nehmen Gestalt an: Das Finanzministerium verlegt Tausende von Arbeitsplätzen aus London ins nordenglische Darlington, die Region Teesside, zu der Hartlepool gehört, soll einen zollfreien Hafen bekommen. Es ist diese „positive Veränderung“, von der die neue Abgeordnete Mortimer am Freitag spricht.
Bei der finanziellen Unterstützung von Arbeitsplätzen, die durch die Covid-Pandemie in Gefahr gerieten, arbeitet Johnsons Regierung mit sozialdemokratischer Großzügigkeit. Und nach verheerenden Pannen im Kampf gegen Sars-CoV-2 gelingt die Impfkampagne seit Monaten beinahe reibungslos: Mehr als die Hälfte der Menschen hat eine Dosis bekommen, ein Viertel ist vollständig geimpft.
Diese äußeren Faktoren machten das Geschäft jeder Oppositionspartei schwierig, analysierte der frühere Parteistratege Lord Peter Mandelson: „Die Leute scharen sich instinktiv um die Regierung.“