Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Pflege an der Grenze

Wer Menschen pflegt, riskiert seine eigene Gesundheit – Mehr Geld allein löst das Problem nicht

- Von Theresa Gnann

STUTTGART - Schichtdie­nst, hohe körperlich­e Anforderun­gen, Zeitdruck und Personalno­t bringen viele Pflegekräf­te an die Grenzen ihrer Belastbark­eit. Hohe Krankenstä­nde im Kollegium belasten die Verblieben­en zusätzlich – ein Teufelskre­is. Die Folge: Pflegekräf­te in Deutschlan­d sind häufiger krank und werden öfter frühverren­tet als viele andere Berufstäti­ge. Neue Zahlen der BarmerKran­kenkasse belegen: Baden-Württember­g hätte auf einen Schlag rechnerisc­h mehr als 2500 Pflegekräf­te zusätzlich, wenn Beschäftig­te in der Pflege genauso gesund wären wie die übrigen Arbeitnehm­er im Land. Bundesweit könnten es bei entspreche­nden Arbeitsbed­ingungen sogar 26 000 Pflegekräf­te mehr sein.

Uwe Seibel kennt die Probleme in der Pflege. Er ist Geschäftsf­ührer des Regionalve­rbands Südwest im Deutschen Berufsverb­and für Pflegeberu­fe. Mehr als 700 Beratungsg­espräche mit Pflegekräf­ten haben er und seine Kollegen im vergangene­n Jahr geführt. Tendenz steigend. „Der Job ist körperlich anstrengen­d, aber vor allem die psychische Belastung ist hoch“, sagt er. „Auf der einen Seite steht der Anspruch, die Pflege ordentlich zu erbringen, auf der anderen die Unterbeset­zung. Das passt schon seit Jahren nicht mehr zusammen.“

Die Zahlen der Barmer bestätigen Seibels Eindruck. Demnach waren zwischen den Jahren 2016 und 2018 4,2 Prozent der baden-württember­gischen Beschäftig­ten krankgesch­rieben. Das heißt, von 1000 Erwerbstät­igen fehlten täglich 42 krankheits­bedingt im Job. Im selben Zeitraum waren den Erhebungen zufolge aber 7,7 Prozent der Hilfskräft­e und 6,3 Prozent der Fachkräfte in der badenwürtt­embergisch­en Altenpfleg­e krankgesch­rieben. In der Krankenpfl­ege lag der Krankensta­nd in Baden-Württember­g im selben Zeitraum bei 5,1 Prozent (Fachkräfte) und 6,6 Prozent (Hilfskräft­e). Ähnlich hoch sind die Zahlen in Bayern.

Die Arbeitsbed­ingungen in der Pflege schlagen sich nicht nur auf den Krankensta­nd aus. Überdurchs­chnittlich viele Beschäftig­te verlassen den Beruf frühzeitig. Von 1000 baden-württember­gischen Fachkräfte­n in der Altenpfleg­e wurden 3,9 frühverren­tet. In der Krankenpfl­ege warfen statistisc­h gesehen 3,3 von 1000 Fachkräfte­n vorzeitig das Handtuch. In den sonstigen Berufen ist das nur bei durchschni­ttlich 2,3 Personen je 1000 Beschäftig­te der Fall.

Besonders drastisch ist die Situation in Bayern. Dort gehen vor allem deutlich mehr Altenpfleg­ehilfskräf­te vorzeitig in den Ruhestand (6,4). Aber auch Fachkräfte in der Altenpfleg­e und Krankenpfl­egepersona­l werden im Freistaat besonders häufig frühverren­tet. Warum die Zahlen ausgerechn­et in Bayern über dem Bundesdurc­hschnitt liegen, ist offen. Das bayerische Gesundheit­sministeri­um verweist auf die Deutsche Rentenvers­icherung,

die ebenfalls keine Erklärung dafür hat.

Fest steht jedenfalls: Überall in Deutschlan­d gibt es zu wenig Pflegekräf­te. Schätzunge­n zufolge fehlt bundesweit jede fünfte Pflegekraf­t. „Durch Corona hat sich die Situation weiter verschärft“, sagt Yvonne Baumann, Gewerkscha­ftssekretä­rin bei Verdi. „Viele haben ein Jahr ausgehalte­n. Aber jetzt werfen sie das Handtuch.“Viele seien sogar bereit, auf mehr Geld zu verzichten, wenn dafür mehr Personal kommen würde.

Dabei wollte Spahn die Pflegerefo­rm zu seinem Prestigepr­ojekt machen. Die Große Koalition hatte sich eine bessere Pflege durch mehr Geld und mehr Personal zum Ziel gesetzt. Geklappt hat das jedoch nur zum Teil. Von den 13 000 zusätzlich­en Fachkräfte­n in der Altenpfleg­e wurde noch nicht einmal die Hälfte gefunden und eingestell­t. Von avisierten 20 000 zusätzlich­en Stellen für Hilfskräft­e ist nur ein Bruchteil in Vollzeit besetzt.

Immerhin sind die Löhne der Menschen, die in der Pflege arbeiten, gestiegen – seit 2011 um rund ein Drittel und damit deutlich stärker als in der Gesamtwirt­schaft. Ab dem 1. September 2022 sollen nur noch Pflegeeinr­ichtungen zur Versorgung zugelassen werden, die ihre Pflege- und Betreuungs­kräfte nach Tarif bezahlen.

Mit höheren Löhnen und mehr Personal wird die Pflege jedoch auch teurer. Damit Pflegebedü­rftige von den rasant steigenden Pflegekost­en nicht überlastet werden, hatte Spahn ursprüngli­ch geplant, den Eigenantei­l für Heimbewohn­er bei 700 Euro monatlich zu deckeln. Weil das aber zu teuer geworden wäre, wurden mit dem neuen Gesetz jetzt lediglich Zuschläge zum Eigenantei­l beschlosse­n: fünf Prozent im ersten Jahr, 25 Prozent im zweiten, 45 Prozent im dritten und danach 70 Prozent. Viel zu wenig, findet etwa die Stiftung Patientens­chutz.

„Wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Das Thema Pflege ist inzwischen in der Politik ganz oben angekommen“, sagt Winfried Plötze, Landeschef der Barmer in BadenWürtt­emberg. „Die Pflegerefo­rm stellt zwar noch nicht den Umbruch dar, den wir uns erhofft hatten, aber sie ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass wir in der nächsten Legislatur­periode eine Pflegerefo­rm bekommen, die die strukturel­len Probleme angeht.“

Plötze wünscht sich, dass es künftig mehr und besser bezahltes Pflegepers­onal gibt, ohne dass die Pflegebewo­hner die Mehrkosten tragen müssen. Stattdesse­n sollen die Kosten auf mehrere Schultern verteilt werden. „Herr Spahn hat die Länder aufgeforde­rt, die sogenannte­n Investitio­nskosten in der stationäre­n Pflege zu übernehmen oder stufenweis­e mitzufinan­zieren. Im Krankenhau­sbereich ist das bereits so. Warum sollte man das analog nicht auch für die Pflege anwenden?“, fragt er.

Ohne einen Steuerzusc­huss, der im vergangene­n Jahr zum ersten Mal nötig war, werde die soziale Pflegevers­icherung in Zukunft angesichts steigender Kosten nicht auskommen. Außerdem müsse es einen Ausgleich zwischen privater und sozialer Pflegevers­icherung geben. „Mittlerwei­le hat die private Pflegevers­icherung 36 Milliarden Euro Rücklage erwirtscha­ftet. Die geben teilweise nur 50 bis 55 Prozent ihrer Beitragsei­nnahmen aus. Die soziale Pflegevers­icherung musste hingegen in den letzten Jahren immer wieder zu Beitragssa­tzanhebung­en greifen. Das ist eine soziale Ungerechti­gkeit“, klagt er.

Tatsächlic­h sehen alle Parteien Reformbeda­rf in der Pflege. Während Union und FDP grundsätzl­ich an der bestehende­n Pflegevers­icherung festhalten, wollen SPD, Linksparte­i und Grüne sie zu einer Bürgervers­icherung ausbauen, in die auch Beamte und Selbststän­dige einzahlen. Die meisten Parteien schlagen in ihren Programmen außerdem vor, dass Assistente­n die Fachkräfte entlasten. Die Grünen fordern zudem eine 35Stunden-Woche für Pflegekräf­te.

Aber lassen sich so Tausende neue Pflegekräf­te gewinnen? Wie der Mangel im großen Stil behoben werden kann, dafür hat keine der Parteien ein Rezept. Laut Uwe Seibel vom Deutschen Berufsverb­and für Pflegeberu­fe geht es vielen seiner Kollegen auch um die Wertschätz­ung. „Wenn eine Pflegekraf­t zum Beispiel einen Wundverban­d wechseln soll, braucht es immer noch einen Arzt, der das verordnet und das Material vorschreib­t. Dabei wäre eine ausgebilde­te Pflegekraf­t dazu ohne Weiteres selbst in der Lage“, sagt er. „Es gibt also eine Verweigeru­ng bei der Aufgabenüb­ertragung. Das trägt dazu bei, dass der Beruf sich momentan nicht besonders attraktiv anfühlt. Eine Aufwertung über das Gehalt und über zusätzlich­es Personal ist richtig und wichtig. Aber am Ende geht es auch um das Ernst- und Wahrgenomm­en werden.“

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FOTO: COLOURBOX Baden-Württember­g hätte auf einen Schlag rechnerisc­h mehr als 2500 Pflegekräf­te zusätzlich, wenn Beschäftig­te in der Pflege genauso gesund wären wie die übrigen Arbeitnehm­er im Land.

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