Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Pflege an der Grenze
Wer Menschen pflegt, riskiert seine eigene Gesundheit – Mehr Geld allein löst das Problem nicht
STUTTGART - Schichtdienst, hohe körperliche Anforderungen, Zeitdruck und Personalnot bringen viele Pflegekräfte an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Hohe Krankenstände im Kollegium belasten die Verbliebenen zusätzlich – ein Teufelskreis. Die Folge: Pflegekräfte in Deutschland sind häufiger krank und werden öfter frühverrentet als viele andere Berufstätige. Neue Zahlen der BarmerKrankenkasse belegen: Baden-Württemberg hätte auf einen Schlag rechnerisch mehr als 2500 Pflegekräfte zusätzlich, wenn Beschäftigte in der Pflege genauso gesund wären wie die übrigen Arbeitnehmer im Land. Bundesweit könnten es bei entsprechenden Arbeitsbedingungen sogar 26 000 Pflegekräfte mehr sein.
Uwe Seibel kennt die Probleme in der Pflege. Er ist Geschäftsführer des Regionalverbands Südwest im Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe. Mehr als 700 Beratungsgespräche mit Pflegekräften haben er und seine Kollegen im vergangenen Jahr geführt. Tendenz steigend. „Der Job ist körperlich anstrengend, aber vor allem die psychische Belastung ist hoch“, sagt er. „Auf der einen Seite steht der Anspruch, die Pflege ordentlich zu erbringen, auf der anderen die Unterbesetzung. Das passt schon seit Jahren nicht mehr zusammen.“
Die Zahlen der Barmer bestätigen Seibels Eindruck. Demnach waren zwischen den Jahren 2016 und 2018 4,2 Prozent der baden-württembergischen Beschäftigten krankgeschrieben. Das heißt, von 1000 Erwerbstätigen fehlten täglich 42 krankheitsbedingt im Job. Im selben Zeitraum waren den Erhebungen zufolge aber 7,7 Prozent der Hilfskräfte und 6,3 Prozent der Fachkräfte in der badenwürttembergischen Altenpflege krankgeschrieben. In der Krankenpflege lag der Krankenstand in Baden-Württemberg im selben Zeitraum bei 5,1 Prozent (Fachkräfte) und 6,6 Prozent (Hilfskräfte). Ähnlich hoch sind die Zahlen in Bayern.
Die Arbeitsbedingungen in der Pflege schlagen sich nicht nur auf den Krankenstand aus. Überdurchschnittlich viele Beschäftigte verlassen den Beruf frühzeitig. Von 1000 baden-württembergischen Fachkräften in der Altenpflege wurden 3,9 frühverrentet. In der Krankenpflege warfen statistisch gesehen 3,3 von 1000 Fachkräften vorzeitig das Handtuch. In den sonstigen Berufen ist das nur bei durchschnittlich 2,3 Personen je 1000 Beschäftigte der Fall.
Besonders drastisch ist die Situation in Bayern. Dort gehen vor allem deutlich mehr Altenpflegehilfskräfte vorzeitig in den Ruhestand (6,4). Aber auch Fachkräfte in der Altenpflege und Krankenpflegepersonal werden im Freistaat besonders häufig frühverrentet. Warum die Zahlen ausgerechnet in Bayern über dem Bundesdurchschnitt liegen, ist offen. Das bayerische Gesundheitsministerium verweist auf die Deutsche Rentenversicherung,
die ebenfalls keine Erklärung dafür hat.
Fest steht jedenfalls: Überall in Deutschland gibt es zu wenig Pflegekräfte. Schätzungen zufolge fehlt bundesweit jede fünfte Pflegekraft. „Durch Corona hat sich die Situation weiter verschärft“, sagt Yvonne Baumann, Gewerkschaftssekretärin bei Verdi. „Viele haben ein Jahr ausgehalten. Aber jetzt werfen sie das Handtuch.“Viele seien sogar bereit, auf mehr Geld zu verzichten, wenn dafür mehr Personal kommen würde.
Dabei wollte Spahn die Pflegereform zu seinem Prestigeprojekt machen. Die Große Koalition hatte sich eine bessere Pflege durch mehr Geld und mehr Personal zum Ziel gesetzt. Geklappt hat das jedoch nur zum Teil. Von den 13 000 zusätzlichen Fachkräften in der Altenpflege wurde noch nicht einmal die Hälfte gefunden und eingestellt. Von avisierten 20 000 zusätzlichen Stellen für Hilfskräfte ist nur ein Bruchteil in Vollzeit besetzt.
Immerhin sind die Löhne der Menschen, die in der Pflege arbeiten, gestiegen – seit 2011 um rund ein Drittel und damit deutlich stärker als in der Gesamtwirtschaft. Ab dem 1. September 2022 sollen nur noch Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen werden, die ihre Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif bezahlen.
Mit höheren Löhnen und mehr Personal wird die Pflege jedoch auch teurer. Damit Pflegebedürftige von den rasant steigenden Pflegekosten nicht überlastet werden, hatte Spahn ursprünglich geplant, den Eigenanteil für Heimbewohner bei 700 Euro monatlich zu deckeln. Weil das aber zu teuer geworden wäre, wurden mit dem neuen Gesetz jetzt lediglich Zuschläge zum Eigenanteil beschlossen: fünf Prozent im ersten Jahr, 25 Prozent im zweiten, 45 Prozent im dritten und danach 70 Prozent. Viel zu wenig, findet etwa die Stiftung Patientenschutz.
„Wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Das Thema Pflege ist inzwischen in der Politik ganz oben angekommen“, sagt Winfried Plötze, Landeschef der Barmer in BadenWürttemberg. „Die Pflegereform stellt zwar noch nicht den Umbruch dar, den wir uns erhofft hatten, aber sie ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich hoffe, dass wir in der nächsten Legislaturperiode eine Pflegereform bekommen, die die strukturellen Probleme angeht.“
Plötze wünscht sich, dass es künftig mehr und besser bezahltes Pflegepersonal gibt, ohne dass die Pflegebewohner die Mehrkosten tragen müssen. Stattdessen sollen die Kosten auf mehrere Schultern verteilt werden. „Herr Spahn hat die Länder aufgefordert, die sogenannten Investitionskosten in der stationären Pflege zu übernehmen oder stufenweise mitzufinanzieren. Im Krankenhausbereich ist das bereits so. Warum sollte man das analog nicht auch für die Pflege anwenden?“, fragt er.
Ohne einen Steuerzuschuss, der im vergangenen Jahr zum ersten Mal nötig war, werde die soziale Pflegeversicherung in Zukunft angesichts steigender Kosten nicht auskommen. Außerdem müsse es einen Ausgleich zwischen privater und sozialer Pflegeversicherung geben. „Mittlerweile hat die private Pflegeversicherung 36 Milliarden Euro Rücklage erwirtschaftet. Die geben teilweise nur 50 bis 55 Prozent ihrer Beitragseinnahmen aus. Die soziale Pflegeversicherung musste hingegen in den letzten Jahren immer wieder zu Beitragssatzanhebungen greifen. Das ist eine soziale Ungerechtigkeit“, klagt er.
Tatsächlich sehen alle Parteien Reformbedarf in der Pflege. Während Union und FDP grundsätzlich an der bestehenden Pflegeversicherung festhalten, wollen SPD, Linkspartei und Grüne sie zu einer Bürgerversicherung ausbauen, in die auch Beamte und Selbstständige einzahlen. Die meisten Parteien schlagen in ihren Programmen außerdem vor, dass Assistenten die Fachkräfte entlasten. Die Grünen fordern zudem eine 35Stunden-Woche für Pflegekräfte.
Aber lassen sich so Tausende neue Pflegekräfte gewinnen? Wie der Mangel im großen Stil behoben werden kann, dafür hat keine der Parteien ein Rezept. Laut Uwe Seibel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe geht es vielen seiner Kollegen auch um die Wertschätzung. „Wenn eine Pflegekraft zum Beispiel einen Wundverband wechseln soll, braucht es immer noch einen Arzt, der das verordnet und das Material vorschreibt. Dabei wäre eine ausgebildete Pflegekraft dazu ohne Weiteres selbst in der Lage“, sagt er. „Es gibt also eine Verweigerung bei der Aufgabenübertragung. Das trägt dazu bei, dass der Beruf sich momentan nicht besonders attraktiv anfühlt. Eine Aufwertung über das Gehalt und über zusätzliches Personal ist richtig und wichtig. Aber am Ende geht es auch um das Ernst- und Wahrgenommen werden.“