Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Jeder Tag ein Kampf ums Überleben
Den Menschen im Nordirak droht eine Katastrophe – Eine Volksgruppe leidet besonders
RAVENSBURG - Perspektivlos, hoffnungslos, mutlos: Im Nordirak droht eine humanitäre Katastrophe angesichts des politischen und wirtschaftlichen Stillstands in der Region. „Schon jetzt sind die Suizidzahlen in den von aus ihrer Heimat vertriebenen Jesiden bewohnten Flüchtlingscamps sehr hoch“, sagt Professor Jan Ilhan Kizilhan und spricht von über 440 Opfern, „aber auch unter den dort heimischen Kurden in der Autonomen Region Kurdistan verbreiten sich Angst und Sorge um die persönliche Zukunft, um ihren Job und die Sicherheit“. Die psychische Belastung sei sehr hoch, weiß der international anerkannte und gefragte Experte für transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, der sowohl an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen wie auch an der Universität in Dohuk im Nordirak lehrt: „Die Menschen müssen aus ihrem Vakuum raus!“
Beim Bodensee Business Forum am 20. Oktober werden Kizilhan, der Gouverneur der Provinz Dohuk, Ali Tatar, die Menschenrechtsaktivistin und Journalistin Düzen Tekkal wie auch der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume, über die Situation im Irak sprechen. Eine Forderung stellt Kizilhan schon jetzt: „Die Suizidprävention, die wir in diesem Frühjahr gestartet haben, muss ausgebaut werden!“Seit diesem Frühjahr weisen in den Camps Flugblätter auf die
„Telephone Helpline“hin: Dort können sich Hilfesuchende Rat holen. Die Aktion „Helfen bringt Freude“der „Schwäbischen Zeitung“finanziert dieses Projekt maßgeblich.
Düzen Tekkal, die selbst jesidische Wurzeln hat und regelmäßig im Irak unterwegs ist, bestätigt: „Die meisten dieser Selbstmorde ereigneten sich in den Lagern für Binnenvertriebene.“Die Ursachen für Selbsttötungen seien stets vielschichtig und individuell: „Doch mit den Traumata im Rücken, die von einem Genozid herrühren, ist jeder Tag eine Zerreißprobe.“Denn die Not vor allem der Jesiden, die 2014 von der Terrormiliz „Islamischer Staat“vertrieben wurden, ist nach wie vor groß. 600 000 bis 700 000 Flüchtlinge verteilen sich in der Provinz Dohuk: Die meisten von ihnen sind in 21 großen Camps untergebracht und leben unter Zeltplanen, bestenfalls in Wohncontainern. Die in Berlin lebende Aktivistin Tekkal ergänzt: „Wenn noch Belastungen infolge der globalen Covid-19-Pandemie und die Unsicherheit hinzu kommen, ob und wann die jesidischen Geflüchteten in ihre Heimatorte im Shingal-Gebirge zurückkehren können, dann wird es dunkel in der Seele. Deshalb braucht es dringend mehr psychologische Betreuung in den Camps!“
Die Lage im Irak ist komplex: Zwar sollen im Oktober im Irak Parlamentswahlen stattfinden. Doch kaum jemand erwartet, dass daraus eine starke Regierung hervorgeht. Regierungschef Mustafa al-Kasimi hatte die Wahlen im vergangenen Jahr vorgezogen und damit Forderungen von Massenprotesten entsprochen. Der Irak erlebt derzeit eine schwere Wirtschaftskrise. Das ölreiche Land leidet stark unter dem niedrigen Ölpreis.
„In dieser Situation erleben die Menschen ein Ohnmachtsgefühl“, weiß Professor Kizilhan, hinzu kommt der angekündigte Abzug von Teilen der US-Truppen. Denn nach mehr als 18 Jahren soll der Kampfeinsatz der US-Truppen im Irak zum Jahreswechsel enden. Vor allem die mit dem Iran verbündeten Milizen und politischen Kräfte im Land fordern den vollständigen Abzug der Amerikaner.
Doch es gibt im Irak Kräfte, die sich immer wieder gegen einen Abzug der Amerikaner ausgesprochen haben. So profitieren vor allem sunnitische Gruppen und Kurden vom Schutz der US-Truppen. Hamza Mustafa, ein irakischer Politikwissenschaftler, mahnte zu Besonnenheit. Ein komplettes Ende des USEinsatzes könnte große Risiken mit sich bringen: „Wenn das so kommen würde, dann könnte das ein Machtvakuum hinterlassen, in welches unterschiedliche Akteure hineindrängen. Darunter sicherlich auch der IS.“Am Ende könnte es ähnlich laufen, wie beim US-Abzug in Afghanistan, sagt Mustafa, wo die Taliban das Land im August kampflos überrennen und die Macht einnehmen konnten: „Die Angst davor ist real und wird von vielen angesprochen.“