Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Entschleunigung im Pongau
Kräuter und Wetterweisheiten entdecken in der Bergwelt im südlichen Salzburger Land
Fast hätten wir es übersehen, ein unscheinbares Pflanzenbüschel mit violetter Blüte. „Das ist Quendel, ein typisches Bergkraut“, sagt Anja Fischer. „Daraus kann man Hustenhonig machen.“Und da drüben wächst Frauenmantel. „Wirkt krampflösend und entzündungshemmend.“Und da vorn: Spitzwegerich. „Ein natürliches Wiesenpflaster.“Wo wir im Großen und Ganzen nur eine grüne Bergwiese sehen, tut sich für Anja Fischer eine wohlsortierte Apotheke auf.
Wir sind unterwegs oberhalb von Altenmarkt im Pongau, im südlichen Salzburger Land. Unsere pflanzenkundige Begleiterin hat uns mitgenommen zu einem Spaziergang um den Hochnösslersee, einen Weiher auf etwa 1300 Metern Seehöhe in den Radstädter Tauern. Anja Fischer stellt sich als „Kräuterfrau“vor, spezialisiert auf Traditionelle Europäische Heilkunde. Zurück zur Natur, sich mehr zu erden, das sei ihr Antrieb, berichtet die 39-Jährige, die früher einmal als Flugbegleiterin gearbeitet hat.
Nun sucht sie die Böschung nach weiteren Heilpflanzen ab und erzählt: „Ich finde es schön, wenn altes Wissen auch heute noch weitergegeben werden kann.“Über den Tourismusverband Altenmarkt-Zauchensee bietet sie Kräuter-Workshops für Kinder und Erwachsene an; nach unserem Spaziergang werden wir die geernteten Pflanzen zu einem Kräutersalz verarbeiten. Und zwar ganz traditionell mit Mörser und Stößel. „Weil Wirkstoffe und ätherische Öle so direkt ins Salz übergehen.“
Im Winter gehören die kräuterreichen Hänge, über die unser Weg führt, zum Verbund Ski Amadé, einem der größten Wintersportgebiete Europas mit 270 Liften in 25 Ortschaften. In der Sommersaison geht es wesentlich entspannter zu. Auch am Hochnösslersee. Es ist Sonntagnachmittag, darum werden hier jetzt die Picknickdecken ausgebreitet. Auf Bestellung kann man sich an der nahe gelegenen Alm einen Korb holen – gefüllt wahlweise mit italienischen oder österreichischen Spezialitäten. Dazu gibt es Livemusik der „Second Hand Brothers“, die sich auf Jazz genauso verstehen wie auf Austropop. Diese Art, das Wochenende ausklingen zu lassen, wurde in Altenmarkt im Corona-Sommer 2020 erstmals erprobt – schließlich kann man auf den Decken problemlos den nötigen Abstand halten. Nun soll das Angebot weitergeführt werden.
Altenmarkt-Zauchensee ist, wie der Name nahelegt, ein doppelter Urlaubsort. Und zwar einer mit zwei sehr unterschiedlichen Gesichtern. Zauchensee ist der höher gelegene Teil, eigentlich eine Ansammlung von Hotels im Talschluss hinter dem gleichnamigen See auf 1350 Metern Höhe. Den Zauchensee nutzen Fliegenfischer und – hartgesottene – Schwimmer; von der Siedlung geht
Bei Wandertouren im Pongau bieten sich immer wieder schöne Ausblicke, wie hier bei der Rast mit Blick über den Zauchensee.
es mit der Seilbahn zum Gamskogel hinauf auf knapp 1900 Meter. Seit 40 Jahren finden hier Ski-Weltcup-Rennen statt.
Altenmarkt dagegen ist ein lebendiger Ort mit vielen Geschäften und historischem Dorfkern. Auch die Landwirtschaft spielt hier noch eine wichtige Rolle – weswegen Gäste beispielsweise auch Bauernhofführungen buchen können. Gerne wollen wir dem Sinnhub-Bauern einen Besuch abstatten – der Name leitet sich von der Gemarkung ab, auf der sein Hof steht. Am Morgen aber klingelt das Handy, es ist die Bäuerin.
Oben in den Bergen, auf der Alm, sei ein Gatter nicht richtig geschlossen gewesen, berichtet sie. Nun hätten sich die Kühe von der Weide gemacht, und alle müssten hinauf, um die Tiere einzufangen. Wir könnten uns zwar gern auf dem Hof umsehen, aber es sei halt niemand dort. Und so wird es leider nichts mit dem Hofbesuch.
Eindrücke von traditionellen bäuerlichen Lebenswelten erhalten wir aber dennoch. Und zwar an den Hängen des Schwemmbergs, auf der Nordseite von Altenmarkt. Dort hat Martin Steffner, Biobauer auf dem
Habersattgut, vor mehr als zehn Jahren den Bauernregelweg ins Leben gerufen, eine zweistündige Rundwanderung, teils über sonnenbeschienene Bergwiesen, teils durch lichten Wald, und immer wieder mit schönen Ausblicken hinunter auf den Ort, hinüber zur Kemahdhöhe, an deren Hang der Hochnösslersee liegt, und in das Tal Richtung Zauchensee.
Nach dem Motto „bauernschlau durch Wind und Wetter“werden entlang des Weges an 22 Stationen alte Bauernweisheiten erläutert. Einige beziehen sich allgemein auf Wetterphänomene
Anja Fischer, „Kräuterfrau“und Bloggerin, zeigt Gästen in Altenmarkt gern, was auf den Bergwiesen zu finden ist.
wie Föhn, Gewitter oder Wolken („Wenn Schäfchenwolken am Himmel steh’n, kann man ohne Schirm spazieren geh’n“), andere befassen sich mit sogenannten Lostagen wie den Eisheiligen oder Gertraudi („Sieht St. Gertrud Eis, wird das ganze Jahr nicht heiß“).
Nun wissen heute wahrscheinlich auch Landwirte nicht mehr aus dem Stand, dass der Feiertag der Heiligen Gertrud der 17. März ist, und ohnehin bringt der Klimawandel alle meteorologischen Gewissheiten ins Wanken. Deswegen lässt Martin Steffner den Themenweg mit einer „modernen Bauernregel“enden, deren Versmaß mindestens so schräg ist wie das ihrer traditionelleren Vorbilder: „Kommt der Schnee nicht von oben, lassen wir stattdessen Schneekanonen toben.“In der Wintersportnation Österreich hat zumindest diese Weisheit auch im 21. Jahrhundert volle Gültigkeit.
Aber bis zur nächsten Skisaison ist es noch eine Weile hin, und bis dahin ist noch Zeit für einen entschleunigten Sommer und einen beschaulichen Herbst.