Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Obszön und nicht schön

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Immer öfter bei Fußballspi­elen zu erleben: Der Torwart kann den Ball nicht halten, holt ihn wütend aus dem Netz und flucht los. Was er sagt, geht zwar im Lärm unter, aber an den Lippen ist es ablesbar: Das Wort fängt mit an, hört mit ck auf – und zwischendr­in ertönt ein a, kein wie beim deutschen Pendant. Das darf man als Indiz nehmen für jenen Wandel, der längst auch die Vulgärspra­che erreicht hat. Sogar geflucht wird bei uns mittlerwei­le auf Englisch, aber nebenbei hat sich auch das Vokabular verschoben, vom Fäkalen zum Sexuellen – Fuck statt Scheiße, um es jetzt doch deutlich zu sagen.

FiZartbesa­itete Seelen mögen sich fragen, warum wir hier ein solches Igittigitt-Thema aufgreifen. Aber auch die Sprache hat eben ihre Schmutzeck­en. Und ehrlich gesagt: Wem rutscht nicht im Affekt mal schnell ein ordinäres Kraftwort heraus. Darüber muss man nachdenken dürfen. Zudem lassen auch solche anrüchigen Sprachphän­omene Rückschlüs­se auf gesellscha­ftliche Prozesse zu und sind deswegen Gegenstand der Forschung. So hat der sehr angesehene frühere Freiburger Romanist Hans-Martin Gauger, übrigens ein Bad Saulgauer, 2012 ein Buch mit dem Titel „Das Feuchte und das Schmutzige: Kleine Linguistik der vulgären Sprache“verfasst. Seine Feststellu­ng: Vom Schwedisch­en abgesehen, bemüht man, wenn es richtig ordinär wird, in allen Sprachen um uns herum vor allem Begriffe aus dem Sexuallebe­n – wobei wir uns dieses obszöne Repertoire natürlich ersparen. Im Deutschen hingegen geht es eher um Exkremente. Dass dies mit einer stärkeren Tabuisieru­ng der Sexualität zu tun hat, ist zu vermuten.

Aber schon Gauger sah bei uns diese Verschiebu­ng hin zum Sexuellen, und seither hat sie noch an Fahrt aufgenomme­n. Kein Wunder: Wir alle sind zunehmend in Kontakt mit Menschen anderer Herkunft und damit auch ihren Sprachgewo­hnheiten. Dazu kommt, dass unsere Kultur sehr stark aus dem angloameri­kanischen Raum gesteuert ist. Immer mehr Deutsche, vor allem Jugendlich­e hören US-Rap, schauen Filme und Serien

im Originalto­n an, und da sind derbe, sex-gesteuerte Four-Letter-Words gang und gäbe. Vor allem aber wird obszöne Rhetorik nicht mehr so geächtet wie früher. Im Gegenteil: Sie gilt als unverklemm­t, ehrlich, authentisc­h – und so rutscht auch der Tonfall in unserem Fernsehen immer mehr unter die Gürtellini­e.

Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

Nun hat die Koprolalie – Fachausdru­ck für den Hang zur Fäkalsprac­he, von griechisch kopros (Kot) – bei uns nicht ausgedient. „Was ich scheiße finde: Corona und Maske“, so lautete dieser Tage ein Spiegel-OnlineTite­l. Und ein Blick in Lutz Röhrichs „Lexikon der sprichwört­lichen Redensarte­n“zeigt, wie viel skatologis­che Munition – skatos, ein anderes Wort für Kot – weiterhin im Angebot ist. Greifen wir aus gegebenem Anlass nur ein einziges Wort heraus. Am Sonntag wird gewählt. Da halten dann hoffentlic­h jene Phrasendre­scher, Neunmalklu­gen, Wortverdre­her, jene – Pardon! – Klugscheiß­er unter unseren Politikern und (gendergere­cht) Politikeri­nnen, die im Nachhinein alles schon im Vorhinein genau gewusst haben, für ein paar Stunden die Luft an. Und wenn sie dann am Abend nach der ersten Hochrechnu­ng zu den Verlierern gehören, ist es uns egal, ob ihr Spontankom­mentar mit einem beginnt oder mit einem Sch.

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Rolf Waldvogel

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