Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Virtuell in die Schatzkammer
Berühmte Bibliotheken im Südwesten: Die Isnyer Prädikantenbibliothek ist nun auch barrierefrei zugänglich
ISNY - William Cohn breitet die Arme aus: „Herzlich willkommen in Isny im Allgäu“, ruft er mit seiner sonoren Bassstimme, die Fernsehzuschauer aus Jan Böhmermanns Talkshow „Magazin Royale“kennen. Die Isny Marketing GmbH (IMG) hat den Schauspieler vergangenes Jahr engagiert, als in rund sechs Monaten, zusammen mit dem Digitalen Zukunftszentrum Allgäu-Oberschwaben in Leutkirch, eine virtuelle Führung durch die berühmte Prädikantenbibliothek in der evangelischen Stadtpfarrkirche St. Nikolai produziert wurde.
Hinter Cohn ragt der Kirchturm empor. Mit einem braunen, mittelalterlichen Gewand als „Johannes der Prediger“verkleidet, mahnt er zur Eile. Von rechts stürmen zwei wild schreiende Landsknechte heran – und rennen direkt durch den Zuschauer hindurch. Das ist die Einstiegsszene zur „Virtuellen Realität“(VR), die seit Anfang dieses Jahres in der „Isny Info“am Marktplatz mit einer entsprechenden VR-Brille zu erleben ist.
Im echten Leben führen Johannes Ringwald, Pfarrer im Ruhestand, und der pensionierte Gymnasiallehrer Hans Westhäußer in die spätmittelalterliche Bücherschatzkammer. Außer, es herrschen Pandemiezeiten wie jetzt. Aktuell ist die VR-Brille die einzige Möglichkeit, bibliophilen Kostbarkeiten nahezukommen wie dem „Straßburger Gesangbuch“von 1541. Weltweit existiert neben dem Isnyer Exemplar nur noch ein zweites, das sich laut Ringwald und dessen Kollegen Dietrich Oehring in Privatbesitz in den USA befinden soll.
Die virtuelle Führung hatten IMG-Geschäftsführer Jürgen Meier und seine Vorgängerin Bianca Keybach schon lange vor Corona angestoßen. Wichtigster Impuls war, neben touristischen Aspekten, die „Barrierefreiheit“, sagt Meier. Denn seit seiner Errichtung noch vor dem Jahr 1482, als der Bau erstmals in einer Urkunde erwähnt wird, ist der fünf mal fünf Meter große Raum, den ein gut vier Meter hohes und kunstvoll mit grüner Farbe ausgemaltes Kreuzrippengewölbe überspannt, für Menschen mit Handicap nicht zugänglich.
„Rollstuhlfahrer, ältere Menschen oder solche mit Platzangst“, erklärt Meier, könnten nun den Anbau über der Sakristei im 360-Grad-Rundumblick erfassen, ohne die enge, steile, zweimal abknickende Treppe mit gut einem Dutzend Stufen bewältigen zu müssen, die hinter einer schmalen, schwarzen, handgeschmiedeten Eisentür aus dem Chorraum von St. Nikolai emporführt.
„Das Ganze!“, beantwortet Pfarrer Ringwald die Frage, was denn für ihn an der Predigerbibliothek so besonders sei: „Die Bücher und Handschriften in den alten Regalen, das alte Mobiliar, dass alles seit über 500 Jahren hier so beieinander geblieben ist“, sei europaweit einzigartig. Und 1994 für ihn mit ein Grund gewesen, sich für eine Pfarrstelle in Isny zu bewerben.
Helmut Schmid, ein Kollege und seinerzeit Kurseelsorger in Neutrauchburg, hatte da schon jahrelang über die „Studierstube“geforscht. Ihre Geschichte, herausragende Werke ihres Bestands und selbst gefertigte Fotografien von Folianten, Wiegendrucken oder Handschriften fasste Schmid in einem schmalen, 96-seitigen, vierfarbigen Buch zusammen. Anfang 2000 erschienen, ist es bis heute erstaunlicherweise das einzige zum Thema geblieben.
Schmid erzählt, warum Johannes Guldin anno 1462 als Domherr zu Konstanz seiner Geburtsstadt Isny eine „Prädikatur“stiftete: Aus der mit der Renaissance einhergehenden Kritik am Klerus, dessen weltlichem Machtstreben bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Sorge um das Seelenheil, seien Forderungen nach „mehr und besserer Predigt im Gottesdienst“immer lauter geworden. Abhilfe sollten nicht nur bibelfestere Geistliche schaffen, sondern auch weltliche Gelehrte mit „untadeligem Lebenswandel“, eben jene Prediger oder Prädikanten. Deren möglichst umfassende theologische und auch wissenschaftliche Bildung wollte Guldin mit seiner Stiftung fördern.
Befeuert vor allem durch die Reformation, kamen bis ins 18. Jahrhundert etwa 1200 Bände und Drucke, darunter allein rund 70 Originale von Martin Luther sowie über 2000 Handschriften zusammen; und auch dank der Schenkungen reicher Isnyer Handelsherren und Kaufleute, die Beziehungen quer durch Europa pflegten und sogar „Bestellungen“ihrer Prediger von Buch- und Druckwerken im Ausland erledigten. Der Isnyer Bestand an Drucken des 16. Jahrhunderts aus Paris ist einzigartig.
Die älteste Handschrift, ein „Graduale mit Sequenzen und Messoratorien“, datiert um 1180, ist rund 250 Jahre älter als die Bibliothek selbst und wurde aller Wahrscheinlichkeit nach im Kloster Weingarten gefertigt. Besonders sind hier die kunstvoll gemalten, bunten Initiale und zwischen den handschriftlichen, lateinischen Zeilen die sogenannten Neumen, eine Vorform der Notenschrift, nach denen in der Messe gesungen wurde.
Da die Prediger umfassendes Wissen sammeln sollten, stand für sie laut Schmid in den Regalen „neben dem Schrifttum der Kirchenväter jenes der Weisen der Antike“zur Verfügung, und dazu philosophische, historische, medizinische, botanische, juristische und geografische Werke. Unter Letzteren ragen die sechs Bände des „Novus Atlas“heraus, die Willem Janszon Blaeuw zwischen 1640 und 1649 in Amsterdam veröffentlichte. Die Karten, teils über vier aufklappbare Buchseiten, sind von Hand coloriert.
William Cohn erklärt derlei Höhepunkte beim Blick durch die VR-Brille. Der Reiz einer Führung mit Pfarrer Ringwald oder Lehrer Westhäußer ist indes die Dramatik, die sich rund um die Prädikantenbibliothek in einem halben Jahrtausend abspielte: Den verheerenden Stadtbrand 1631 überstand sie unbeschadet. Das Veto eines Oberkirchenrates verhinderte im 19. Jahrhundert ihren Verkauf, als die evangelische Kirchengemeinde Geld brauchte, die bis heute für den Erhalt aufkommt. Während einer Sanierung von St. Nikolai zwischen 1968 und 1972 drang Wasser in das Studierzimmer neben dem Turm. Mit der Bayerischen Staatsbibliothek in München – die Werke missen muss, die in Isny vorhanden sind – werden wertvolle Bände seit damals nach und nach restauriert. Für kommende Jahrhunderte.