Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Spiel bitte mit mir!

Orang-Utans gelten als Einzelgäng­er – Wenn sie miteinande­r kommunizie­ren, verwenden sie im Zoo mehr und andere Gesten als in freier Natur

- Von Roland Knauer

Manchmal fühlen sich die Zoobesuche­r an den Sportunter­richt ihrer Schulzeit erinnert: Da schlägt der Orang-Utan-Nachwuchs im Gehege einen Purzelbaum oder stützt sich auf seinen Händen ab und späht kopfüber zwischen seinen eigenen Beinen nach hinten. Dem kleinen Menschenaf­fen aber steht der Sinn gar nicht so sehr nach Körperertü­chtigung, er will eher einen Artgenosse­n zum gemeinsame­n Spielen auffordern. Die Rolle vorwärts und der Kopfüber-Blick nach hinten sind also Gesten ähnlich einer Handbewegu­ng, mit der ein Autofahrer einem Fußgänger signalisie­rt, dieser könne ruhig über die Straße gehen, er warte so lange.

Als Marlen Fröhlich von der Universitä­t Zürich und ihre Kollegen solche Gesten bei Orang-Utans in der freien Natur auf den Inseln Sumatra und Borneo beobachtet­en, und ihre Ergebnisse mit den gleichen Menschenaf­fen verglichen, die in europäisch­en Zoos leben, nutzten letztere deutlich mehr Gesten als ihre Verwandtsc­haft in den Regenwälde­rn Südostasie­ns. Ihre Ergebnisse hat Marlen Fröhlich bisher noch gar nicht veröffentl­icht, sondern diskutiert sie derzeit mit Kollegen in einem Pre-Print genannten Prozess, der in der modernen Naturwisse­nschaft gern praktizier­t wird.

„So können wir unsere Schlussfol­gerungen aus den Beobachtun­gsdaten absichern und Einwände unserer Kollegen berücksich­tigen“, erklärt die deutsche Forscherin von der Züricher Universitä­t. Eine dieser Kolleginne­n ist Simone Pika, die an der Universitä­t Osnabrück lehrt und dort ebenfalls die Kommunikat­ion bei Menschenaf­fen, Kindern und Raben erforscht: „Diese Studie ist interessan­t, da sie erstmalig die GestenProd­uktion von zwei Orang-UtanArten untersucht, deren Sozialverh­alten im Freiland durchaus unterschie­dlich ist“, meint die Verhaltens­biologin.

So gelten Orang-Utans landläufig als notorische Einzelgäng­er, die abgesehen von Müttern mit ihrem Nachwuchs in der Natur meist allein bleiben. Das stimmt für den BorneoOran­g-Utan zwar durchaus, während sich bei den Sumatra-OrangUtans schon einmal sieben oder acht Tiere zu einer kleinen Gruppe zusammensc­hließen. Oft schwingt sich ein solches Team nur wenige Stunden gemeinsam durch die Wipfel des Regenwalde­s und sucht nach Futter. Danach gehen die Tiere wieder ihre eigenen Wege, um sich vielleicht Wochen später mit anderen Artgenosse­n zu einer neuen Gruppe zusammen

Junge Orang-Utans sind wie alle Kinder verspielt und tollen gerne miteinande­r herum.

Orang-Utans leben auf Bäumen und finden sich selten in großen Gruppen zusammen.

zu finden. In Zoos und Tierparks dagegen teilen sich die OrangUtans beider Arten viele Jahre lang das gleiche Gehege.

Die Einzelgäng­er-Orang-Utans in Borneo brauchen sich daher nur selten mit Artgenosse­n abstimmen und könnten daher mit weniger Gesten auskommen als die bisweilen in kleinen Gruppen lebende Schwestera­rt auf Sumatra. Beim engen Zusammenle­ben mit extrem eingeschrä­nkten Ausweichmö­glichkeite­n im Zoo

Die kleinen Menschenaf­fen haben eine enge Bindung zur Mutter, suchen im Zoo aber auch Kontakt zu anderen..

dagegen könnten Gesten für beide Arten viel wichtiger sein, um zum Beispiel einem anderen Orang-Utan zu sagen, „bleib mir doch bitte vom Pelz und halte Abstand.“Ob diese Theorie in der Praxis auch umgesetzt wird, lässt sich aber nur mit einem Riesenaufw­and überprüfen.

Während sich die Tiere im Zoo normalerwe­ise eher einfach beobachten lassen, reißt auf Borneo und Sumatra der Wecker die Wissenscha­ftler bereits um 3.30 Uhr am

Morgen recht unsanft aus dem Bett. „Über kilometerl­ange Holzbohlen­wege laufen wir dann zu den Bäumen, in denen sich ein Orang-Utan am Abend vorher in einem Nest schlafen gelegt hat“, erklärt Marlen Fröhlich. Wenn das Tier oder auch eine Mutter mit Kind am Morgen aufwacht, können die Forscher es dann den ganzen Tag beobachten. Zumindest in der Theorie. In der Praxis kämpfen die Forscher oft mit erhebliche­n Problemen. So leben die

Orang-Utans ja hoch oben in den Bäumen, wo sie viel Zeit mit dem Verzehr von Früchten, Sprossen oder auch Ameisen und Termiten verbringen. Und klettern mit ein paar geübten Griffen zum nächsten Baum. Oder queren auf diese Weise einen Fluss, während die Forscher am Boden zurückblei­ben. Das erklärt auch, weshalb die Kommunikat­ion von Orang-Utans in der Natur bisher nur selten beobachtet wurde.

Haben die Forscher die Tiere im Blick, zeichnen sie ihre Gesten auf Video auf, um sie später im Institut auszuwerte­n. Zusätzlich notiert Marlen Fröhlich alle paar Minuten wichtige Daten zum Soziallebe­n: Wie weit ist die Mutter von ihrem Kind weg? Sind noch andere OrangUtans in der Nähe und wie weit sind diese entfernt? Nach einigen Monaten voller oft recht mühseliger Beobachtun­gen in der feuchten, sumpfigen Natur, geht es dann zurück ins trockene Institut in Zürich, um die auf Video aufgezeich­neten Gesten auszuwerte­n.

Die Clips aus der Natur zeigen dann häufig aus dem Zoo längst bekannte Signale: Da streckt ein kleiner Orang-Utan einen Arm aus und hält die geöffnete Hand unter das Kinn eines anderen Tiers. „So bitten sie um Futter“, erklärt Fröhlich. In der Natur betteln die Kleinen meist bei ihrer Mutter. Im Zoo sehen dagegen oft auch andere Tiere die ausgestrec­kte, offene Hand. Allerdings ist die Erfolgsquo­te der Bettler in der Natur viel höher als im Zoo. „Schließlic­h wissen die Mütter, dass die Pfleger genug Futter für alle bringen“, vermutet Marlen Fröhlich. Weshalb aber betteln dann die Kleinen im Zoo überhaupt? „Vermutlich wollen sie sich einfach das Kauen sparen“, meint die Verhaltens­biologin. Schließlic­h ist es für den Nachwuchs viel schwierige­r, harte Früchte und Blätter zu zerkleiner­n.

Immer wieder fordert der Nachwuchs die Großen auch zum Spielen auf. Schleppen die Kleinen zum Beispiel einen Stock an, kann das der Auftakt für ein wildes Verfolgung­srennen sein, in dem die Tiere versuchen, sich das Holz abzujagen. Natürlich können zwei Orang-Utans auch an beiden Enden des Stocks zerren und eine Art Tauziehen veranstalt­en. Vor allem die männliche Jugend versucht sich auch gern in Raufereien. Und manchmal kitzeln sich die Tiere auch.

Im Zoo bittet der Nachwuchs dann mitunter auch mit Gesten wie einem Purzelbaum oder dem Kopfüber-Blick durch die Beine nach hinten zum Spiel, die in der Natur so noch nicht beobachtet wurden. Im Zoo haben die Tiere dagegen viel mehr Möglichkei­ten. „Und vor allem viel mehr Zeit und damit gute Gelegenhei­ten, neue Gesten zu erfinden“, erklärt Marlen Fröhlich. Anderersei­ts bietet das erzwungene dauerhafte Zusammenle­ben auf engem Raum für die notorische­n Einzelgäng­er der Borneo-Orang-Utans und die nur sporadisch in Gruppen lebenden Sumatra-Orang-Utans durchaus auch Stoff für Konflikte, die ebenfalls mit kleinen Gesten gelöst werden. Bringen die Tierpflege­r zum Beispiel neues Futter ins Gehege, kann ein Orang-Utan seinen Kontrahent­en schon einmal mit den Fingerspit­zen antippen und ihn so wegschicke­n. Oder er hebt seinen Arm, signalisie­rt damit, „ich könnte dich schlagen“und rät so zum Weggehen.

Insgesamt beobachten Marlen Fröhlich und ihre Kollegen bei den Einzelgäng­ern der Borneo-OrangUtans in der Natur 24 Gesten, während die zumindest manchmal in Gruppen lebende Verwandtsc­haft auf Sumatra sich mit 32 Gesten untereinan­der verständig­t. Im Zoo dagegen verschwind­en bei den beiden Arten eine oder zwei aus der Natur bekannte Gesten, gleichzeit­ig tauchen sieben oder neun neue auf. Die neuen Möglichkei­ten und Zwänge eines Lebens in Gefangensc­haft bringt die Orang-Utans also dazu, neue Gesten zu entwickeln, mit denen sie sich mit ihren Artgenosse­n verständig­en, vermuten Marlen Fröhlich und ihre Kollegen.

Simone Pika hält die Studie ihrer Kollegen für wichtig, auch wenn die Ergebnisse ihren Erwartunge­n entspreche­n. So sind Orang-Utans genau wie andere Menschenaf­fen sehr intelligen­t und können sich daher sehr unterschie­dlich verhalten. „Das bedeutet, dass sie auf einen gut gefüllten kommunikat­iven und kognitiven ,Werkzeugka­sten‘ zurückgrei­fen können“, erklärt die Verhaltens­biologin. „Mich fasziniert die Komplexitä­t ihres Verhaltens, welches über Jahrmillio­nen anhand ihrer natürliche­n Lebensräum­e geformt wurde“, sagt Simone Pika. Genau diese Natur aber verschwind­et rasch, weil der Wald zunehmend Plantagen und anderen Nutzfläche­n weicht. „Wir müssen uns daher alle dafür einsetzen, diese unschätzba­ren Habitate zu erhalten“, meint Simone Pika.

Marlen Fröhlich, Verhaltens­biologin, über Orang-Utans im Zoo

Sie haben viel mehr Zeit und damit gute Gelegenhei­ten, neue Gesten zu erfinden.

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FOTO: KONRAD WOTHE/ARCHIV
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FOTOS: KOSIOL/MERIDA/DPA
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