Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Spiel bitte mit mir!
Orang-Utans gelten als Einzelgänger – Wenn sie miteinander kommunizieren, verwenden sie im Zoo mehr und andere Gesten als in freier Natur
Manchmal fühlen sich die Zoobesucher an den Sportunterricht ihrer Schulzeit erinnert: Da schlägt der Orang-Utan-Nachwuchs im Gehege einen Purzelbaum oder stützt sich auf seinen Händen ab und späht kopfüber zwischen seinen eigenen Beinen nach hinten. Dem kleinen Menschenaffen aber steht der Sinn gar nicht so sehr nach Körperertüchtigung, er will eher einen Artgenossen zum gemeinsamen Spielen auffordern. Die Rolle vorwärts und der Kopfüber-Blick nach hinten sind also Gesten ähnlich einer Handbewegung, mit der ein Autofahrer einem Fußgänger signalisiert, dieser könne ruhig über die Straße gehen, er warte so lange.
Als Marlen Fröhlich von der Universität Zürich und ihre Kollegen solche Gesten bei Orang-Utans in der freien Natur auf den Inseln Sumatra und Borneo beobachteten, und ihre Ergebnisse mit den gleichen Menschenaffen verglichen, die in europäischen Zoos leben, nutzten letztere deutlich mehr Gesten als ihre Verwandtschaft in den Regenwäldern Südostasiens. Ihre Ergebnisse hat Marlen Fröhlich bisher noch gar nicht veröffentlicht, sondern diskutiert sie derzeit mit Kollegen in einem Pre-Print genannten Prozess, der in der modernen Naturwissenschaft gern praktiziert wird.
„So können wir unsere Schlussfolgerungen aus den Beobachtungsdaten absichern und Einwände unserer Kollegen berücksichtigen“, erklärt die deutsche Forscherin von der Züricher Universität. Eine dieser Kolleginnen ist Simone Pika, die an der Universität Osnabrück lehrt und dort ebenfalls die Kommunikation bei Menschenaffen, Kindern und Raben erforscht: „Diese Studie ist interessant, da sie erstmalig die GestenProduktion von zwei Orang-UtanArten untersucht, deren Sozialverhalten im Freiland durchaus unterschiedlich ist“, meint die Verhaltensbiologin.
So gelten Orang-Utans landläufig als notorische Einzelgänger, die abgesehen von Müttern mit ihrem Nachwuchs in der Natur meist allein bleiben. Das stimmt für den BorneoOrang-Utan zwar durchaus, während sich bei den Sumatra-OrangUtans schon einmal sieben oder acht Tiere zu einer kleinen Gruppe zusammenschließen. Oft schwingt sich ein solches Team nur wenige Stunden gemeinsam durch die Wipfel des Regenwaldes und sucht nach Futter. Danach gehen die Tiere wieder ihre eigenen Wege, um sich vielleicht Wochen später mit anderen Artgenossen zu einer neuen Gruppe zusammen
Junge Orang-Utans sind wie alle Kinder verspielt und tollen gerne miteinander herum.
Orang-Utans leben auf Bäumen und finden sich selten in großen Gruppen zusammen.
zu finden. In Zoos und Tierparks dagegen teilen sich die OrangUtans beider Arten viele Jahre lang das gleiche Gehege.
Die Einzelgänger-Orang-Utans in Borneo brauchen sich daher nur selten mit Artgenossen abstimmen und könnten daher mit weniger Gesten auskommen als die bisweilen in kleinen Gruppen lebende Schwesterart auf Sumatra. Beim engen Zusammenleben mit extrem eingeschränkten Ausweichmöglichkeiten im Zoo
Die kleinen Menschenaffen haben eine enge Bindung zur Mutter, suchen im Zoo aber auch Kontakt zu anderen..
dagegen könnten Gesten für beide Arten viel wichtiger sein, um zum Beispiel einem anderen Orang-Utan zu sagen, „bleib mir doch bitte vom Pelz und halte Abstand.“Ob diese Theorie in der Praxis auch umgesetzt wird, lässt sich aber nur mit einem Riesenaufwand überprüfen.
Während sich die Tiere im Zoo normalerweise eher einfach beobachten lassen, reißt auf Borneo und Sumatra der Wecker die Wissenschaftler bereits um 3.30 Uhr am
Morgen recht unsanft aus dem Bett. „Über kilometerlange Holzbohlenwege laufen wir dann zu den Bäumen, in denen sich ein Orang-Utan am Abend vorher in einem Nest schlafen gelegt hat“, erklärt Marlen Fröhlich. Wenn das Tier oder auch eine Mutter mit Kind am Morgen aufwacht, können die Forscher es dann den ganzen Tag beobachten. Zumindest in der Theorie. In der Praxis kämpfen die Forscher oft mit erheblichen Problemen. So leben die
Orang-Utans ja hoch oben in den Bäumen, wo sie viel Zeit mit dem Verzehr von Früchten, Sprossen oder auch Ameisen und Termiten verbringen. Und klettern mit ein paar geübten Griffen zum nächsten Baum. Oder queren auf diese Weise einen Fluss, während die Forscher am Boden zurückbleiben. Das erklärt auch, weshalb die Kommunikation von Orang-Utans in der Natur bisher nur selten beobachtet wurde.
Haben die Forscher die Tiere im Blick, zeichnen sie ihre Gesten auf Video auf, um sie später im Institut auszuwerten. Zusätzlich notiert Marlen Fröhlich alle paar Minuten wichtige Daten zum Sozialleben: Wie weit ist die Mutter von ihrem Kind weg? Sind noch andere OrangUtans in der Nähe und wie weit sind diese entfernt? Nach einigen Monaten voller oft recht mühseliger Beobachtungen in der feuchten, sumpfigen Natur, geht es dann zurück ins trockene Institut in Zürich, um die auf Video aufgezeichneten Gesten auszuwerten.
Die Clips aus der Natur zeigen dann häufig aus dem Zoo längst bekannte Signale: Da streckt ein kleiner Orang-Utan einen Arm aus und hält die geöffnete Hand unter das Kinn eines anderen Tiers. „So bitten sie um Futter“, erklärt Fröhlich. In der Natur betteln die Kleinen meist bei ihrer Mutter. Im Zoo sehen dagegen oft auch andere Tiere die ausgestreckte, offene Hand. Allerdings ist die Erfolgsquote der Bettler in der Natur viel höher als im Zoo. „Schließlich wissen die Mütter, dass die Pfleger genug Futter für alle bringen“, vermutet Marlen Fröhlich. Weshalb aber betteln dann die Kleinen im Zoo überhaupt? „Vermutlich wollen sie sich einfach das Kauen sparen“, meint die Verhaltensbiologin. Schließlich ist es für den Nachwuchs viel schwieriger, harte Früchte und Blätter zu zerkleinern.
Immer wieder fordert der Nachwuchs die Großen auch zum Spielen auf. Schleppen die Kleinen zum Beispiel einen Stock an, kann das der Auftakt für ein wildes Verfolgungsrennen sein, in dem die Tiere versuchen, sich das Holz abzujagen. Natürlich können zwei Orang-Utans auch an beiden Enden des Stocks zerren und eine Art Tauziehen veranstalten. Vor allem die männliche Jugend versucht sich auch gern in Raufereien. Und manchmal kitzeln sich die Tiere auch.
Im Zoo bittet der Nachwuchs dann mitunter auch mit Gesten wie einem Purzelbaum oder dem Kopfüber-Blick durch die Beine nach hinten zum Spiel, die in der Natur so noch nicht beobachtet wurden. Im Zoo haben die Tiere dagegen viel mehr Möglichkeiten. „Und vor allem viel mehr Zeit und damit gute Gelegenheiten, neue Gesten zu erfinden“, erklärt Marlen Fröhlich. Andererseits bietet das erzwungene dauerhafte Zusammenleben auf engem Raum für die notorischen Einzelgänger der Borneo-Orang-Utans und die nur sporadisch in Gruppen lebenden Sumatra-Orang-Utans durchaus auch Stoff für Konflikte, die ebenfalls mit kleinen Gesten gelöst werden. Bringen die Tierpfleger zum Beispiel neues Futter ins Gehege, kann ein Orang-Utan seinen Kontrahenten schon einmal mit den Fingerspitzen antippen und ihn so wegschicken. Oder er hebt seinen Arm, signalisiert damit, „ich könnte dich schlagen“und rät so zum Weggehen.
Insgesamt beobachten Marlen Fröhlich und ihre Kollegen bei den Einzelgängern der Borneo-OrangUtans in der Natur 24 Gesten, während die zumindest manchmal in Gruppen lebende Verwandtschaft auf Sumatra sich mit 32 Gesten untereinander verständigt. Im Zoo dagegen verschwinden bei den beiden Arten eine oder zwei aus der Natur bekannte Gesten, gleichzeitig tauchen sieben oder neun neue auf. Die neuen Möglichkeiten und Zwänge eines Lebens in Gefangenschaft bringt die Orang-Utans also dazu, neue Gesten zu entwickeln, mit denen sie sich mit ihren Artgenossen verständigen, vermuten Marlen Fröhlich und ihre Kollegen.
Simone Pika hält die Studie ihrer Kollegen für wichtig, auch wenn die Ergebnisse ihren Erwartungen entsprechen. So sind Orang-Utans genau wie andere Menschenaffen sehr intelligent und können sich daher sehr unterschiedlich verhalten. „Das bedeutet, dass sie auf einen gut gefüllten kommunikativen und kognitiven ,Werkzeugkasten‘ zurückgreifen können“, erklärt die Verhaltensbiologin. „Mich fasziniert die Komplexität ihres Verhaltens, welches über Jahrmillionen anhand ihrer natürlichen Lebensräume geformt wurde“, sagt Simone Pika. Genau diese Natur aber verschwindet rasch, weil der Wald zunehmend Plantagen und anderen Nutzflächen weicht. „Wir müssen uns daher alle dafür einsetzen, diese unschätzbaren Habitate zu erhalten“, meint Simone Pika.
Marlen Fröhlich, Verhaltensbiologin, über Orang-Utans im Zoo
Sie haben viel mehr Zeit und damit gute Gelegenheiten, neue Gesten zu erfinden.