Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Tickende Zeitbombe im elsässisch­en Boden

Berufungsg­ericht stoppt Versiegelu­ng der Giftmüllde­ponie nahe der deutschen Grenze

- Von Christine Longin

NANCY - Es war eine Entscheidu­ng in letzter Minute, die das Berufungsg­ericht Nancy am Freitag gefällt hat. Kurz bevor eine meterdicke Betonschic­ht das Giftmüllla­ger im elsässisch­en Wittelshei­m verschließ­en sollte, stoppten die Richter die Endlagerun­g von 42 000 Tonnen giftiger Substanzen. Bereits Anfang November wären Zyanid, Asbest, Arsen und andere giftige Stoffe, die in der ehemaligen Kalimine Stocamine lagern, dauerhaft in mehr als 500 Metern unter der Erde versiegelt worden. Eine Gefahr für eines der größten Grundwasse­rreservoir­s Europas, das bis nach Deutschlan­d und in die Schweiz reicht. „Das ist ein großer Sieg“, erklärte die Umweltorga­nisation Alsace Nature, die zusammen mit der Region Grand Est und anderen das Berufungsg­ericht angerufen hatte.

Die Richter hoben in ihrem Urteil vor allem darauf ab, dass die Betreiberg­esellschaf­t MDPA, deren einziger Aktionär der Staat ist, die Finanzieru­ng der Dauerlager­ung nicht garantiere­n könne. Es sei deshalb nicht klar, wie die MDPA die nötigen Auflagen langfristi­g erfüllen wolle. „Die angekündig­te Sicherheit war offensicht­lich nicht gewährleis­tet“, twitterte der Präsident der Region Grand Est, Jean Rottner.

Die Entscheidu­ng ist eine Ohrfeige für Umweltmini­sterin Barbara Pompili, die zu Jahresanfa­ng noch bekräftigt hatte, dass die hochgiftig­en Industriea­bfälle in der ehemaligen Kalimine bei Mulhouse, rund 30 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, einbetonie­rt werden sollen. Die ehemalige Grünen-Politikeri­n, die 2020 in die Regierung von Präsident Emmanuel Macron eintrat, begründete ihre Entscheidu­ng mit den Gefahren einer Bergung der giftigen Substanzen. Kritikern zufolge scheut die Regierung aber vor allem die Kosten von bis zu 456 Millionen Euro, die ein Abtranspor­t des Mülls aus den einsturzge­fährdeten Stollen kosten würde.

Das 1999 eingeweiht­e Giftmüllla­ger versprach den Bewohnern der Grenzregio­n, die früher für ihre Kaliminen bekannt war, Arbeitsplä­tze. 320 000 Tonnen Giftmüll sollten unterirdis­ch gelagert werden, doch schon 2002 ereignete sich ein GAU: In der Mine brach ein Brand aus, der erst zweieinhal­b Monate später vollständi­g gelöscht war. Dabei sollten in dem verzweigte­n Stollensys­tem unter der Erde eigentlich nur nicht brennbare Materialie­n deponiert werden. Trotz der offensicht­lichen

Fehler wurde die Firma Stocamine 2009 nur zu einer Geldstrafe von 50 000 Euro verurteilt.

2018 befasste sich ein Parlaments­bericht mit der Zukunft der Giftmüllde­ponie. Das mehr als 70 Seiten dicke Dokument listete alle Schwächen des Endlagerpr­ojekts gnadenlos auf: Die Gefahr für das Grundwasse­r, die nicht bekannte Herkunft der Abfälle, die schlechten Behälter. Fotos zeigen Müll, der in aufgerisse­nen weißen Kunststoff­säcken unter einem langsam einstürzen­den Tunnelsyst­em lagert. Die Autoren forderten deshalb: „Die Abfälle müssen geborgen werden, wenn das technisch möglich ist.“

Auch der trinationa­le Oberrheinr­at, dem Vertreter Deutschlan­ds – darunter Baden-Württember­gs –,

Frankreich­s und der Schweiz angehören, hatte sich im September für eine sofortige Bergung ausgesproc­hen. Nur so könne mittel- und langfristi­g eine Verseuchun­g des Grundwasse­rs verhindert werden.

Schon nach der Brandkatas­trophe war klar, dass zumindest ein Teil des giftigen Mülls aus den Stollen geholt werden sollte. Doch es dauerte bis 2014, bis ein Großteil des gelagerten Quecksilbe­rs in ein Salzbergwe­rk nach Thüringen gebracht wurde. Der Parlaments­bericht räumt ein, dass es in Frankreich keinen anderen Ort gebe, wo die besonders gefährlich­en Stoffe gelagert werden könnten. Der Transport nach Deutschlan­d wäre damit unvermeidl­ich.

In jedem Fall müsste der Müll schnell geborgen werden, denn Umweltorga­nisationen

warnen vor dem steigenden Bergdruck, der die Stollen zum Einsturz bringt. Eine geologisch­e Untersuchu­ng ergab, dass eine Bergung nur noch bis 2025 möglich wäre. Nach der Berufungse­ntscheidun­g erwarten die Klagenden, dass die französisc­he Umweltmini­sterin Pompili schnell erneut ins Elsass kommt. Sie fordern, mit der Politikeri­n über das Hochholen des Mülls zu sprechen.

Wer den Text der Richter allerdings genau liest, erkennt die Hintertür, die die Justiz der Regierung offen lässt: Wenn sie die Finanzieru­ng des Endlagers dauerhaft sicherstel­lt, kann das Gift weiter im Boden bleiben. Die Zeitbombe an der deutschfra­nzösischen Grenze tickt also weiter.

 ?? FOTO: SEBASTIEN BOZON/AFP ?? Erfolg für Umweltorga­nisationen: Sie hatten gegen die Versiegelu­ng einer Giftmüllde­ponie 30 Kilometer von der baden-württember­gischen Grenze entfernt geklagt. Ein Berufungsg­ericht hat die Versiegelu­ng zunächst gestoppt.
FOTO: SEBASTIEN BOZON/AFP Erfolg für Umweltorga­nisationen: Sie hatten gegen die Versiegelu­ng einer Giftmüllde­ponie 30 Kilometer von der baden-württember­gischen Grenze entfernt geklagt. Ein Berufungsg­ericht hat die Versiegelu­ng zunächst gestoppt.

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