Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Tickende Zeitbombe im elsässischen Boden
Berufungsgericht stoppt Versiegelung der Giftmülldeponie nahe der deutschen Grenze
NANCY - Es war eine Entscheidung in letzter Minute, die das Berufungsgericht Nancy am Freitag gefällt hat. Kurz bevor eine meterdicke Betonschicht das Giftmülllager im elsässischen Wittelsheim verschließen sollte, stoppten die Richter die Endlagerung von 42 000 Tonnen giftiger Substanzen. Bereits Anfang November wären Zyanid, Asbest, Arsen und andere giftige Stoffe, die in der ehemaligen Kalimine Stocamine lagern, dauerhaft in mehr als 500 Metern unter der Erde versiegelt worden. Eine Gefahr für eines der größten Grundwasserreservoirs Europas, das bis nach Deutschland und in die Schweiz reicht. „Das ist ein großer Sieg“, erklärte die Umweltorganisation Alsace Nature, die zusammen mit der Region Grand Est und anderen das Berufungsgericht angerufen hatte.
Die Richter hoben in ihrem Urteil vor allem darauf ab, dass die Betreibergesellschaft MDPA, deren einziger Aktionär der Staat ist, die Finanzierung der Dauerlagerung nicht garantieren könne. Es sei deshalb nicht klar, wie die MDPA die nötigen Auflagen langfristig erfüllen wolle. „Die angekündigte Sicherheit war offensichtlich nicht gewährleistet“, twitterte der Präsident der Region Grand Est, Jean Rottner.
Die Entscheidung ist eine Ohrfeige für Umweltministerin Barbara Pompili, die zu Jahresanfang noch bekräftigt hatte, dass die hochgiftigen Industrieabfälle in der ehemaligen Kalimine bei Mulhouse, rund 30 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, einbetoniert werden sollen. Die ehemalige Grünen-Politikerin, die 2020 in die Regierung von Präsident Emmanuel Macron eintrat, begründete ihre Entscheidung mit den Gefahren einer Bergung der giftigen Substanzen. Kritikern zufolge scheut die Regierung aber vor allem die Kosten von bis zu 456 Millionen Euro, die ein Abtransport des Mülls aus den einsturzgefährdeten Stollen kosten würde.
Das 1999 eingeweihte Giftmülllager versprach den Bewohnern der Grenzregion, die früher für ihre Kaliminen bekannt war, Arbeitsplätze. 320 000 Tonnen Giftmüll sollten unterirdisch gelagert werden, doch schon 2002 ereignete sich ein GAU: In der Mine brach ein Brand aus, der erst zweieinhalb Monate später vollständig gelöscht war. Dabei sollten in dem verzweigten Stollensystem unter der Erde eigentlich nur nicht brennbare Materialien deponiert werden. Trotz der offensichtlichen
Fehler wurde die Firma Stocamine 2009 nur zu einer Geldstrafe von 50 000 Euro verurteilt.
2018 befasste sich ein Parlamentsbericht mit der Zukunft der Giftmülldeponie. Das mehr als 70 Seiten dicke Dokument listete alle Schwächen des Endlagerprojekts gnadenlos auf: Die Gefahr für das Grundwasser, die nicht bekannte Herkunft der Abfälle, die schlechten Behälter. Fotos zeigen Müll, der in aufgerissenen weißen Kunststoffsäcken unter einem langsam einstürzenden Tunnelsystem lagert. Die Autoren forderten deshalb: „Die Abfälle müssen geborgen werden, wenn das technisch möglich ist.“
Auch der trinationale Oberrheinrat, dem Vertreter Deutschlands – darunter Baden-Württembergs –,
Frankreichs und der Schweiz angehören, hatte sich im September für eine sofortige Bergung ausgesprochen. Nur so könne mittel- und langfristig eine Verseuchung des Grundwassers verhindert werden.
Schon nach der Brandkatastrophe war klar, dass zumindest ein Teil des giftigen Mülls aus den Stollen geholt werden sollte. Doch es dauerte bis 2014, bis ein Großteil des gelagerten Quecksilbers in ein Salzbergwerk nach Thüringen gebracht wurde. Der Parlamentsbericht räumt ein, dass es in Frankreich keinen anderen Ort gebe, wo die besonders gefährlichen Stoffe gelagert werden könnten. Der Transport nach Deutschland wäre damit unvermeidlich.
In jedem Fall müsste der Müll schnell geborgen werden, denn Umweltorganisationen
warnen vor dem steigenden Bergdruck, der die Stollen zum Einsturz bringt. Eine geologische Untersuchung ergab, dass eine Bergung nur noch bis 2025 möglich wäre. Nach der Berufungsentscheidung erwarten die Klagenden, dass die französische Umweltministerin Pompili schnell erneut ins Elsass kommt. Sie fordern, mit der Politikerin über das Hochholen des Mülls zu sprechen.
Wer den Text der Richter allerdings genau liest, erkennt die Hintertür, die die Justiz der Regierung offen lässt: Wenn sie die Finanzierung des Endlagers dauerhaft sicherstellt, kann das Gift weiter im Boden bleiben. Die Zeitbombe an der deutschfranzösischen Grenze tickt also weiter.