Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Karen Köhlers Lesung ist ein „Fest für die Ohren“
Die Hamburger Autorin stellt ihren Roman „Miroloi“bei den Isnyer Literaturtagen vor
ISNY/URLAU - Von einem „Fest für die Ohren“ist am Ende der Lesung mit Karen Köhler die Rede gewesen. Das Publikum konnte sich im „Weißen Salon“der Allgäuer Genussmanufaktur an ihrem Romandebüt „Miroloi“nicht satt hören, den sie bei den Isnyer Literaturtagen vorstellte.
Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet ein von Frauen gedichtetes und gesungenes Totenlied. Köhlers Geschichte spielt auf einer Insel in der Ägäis und handelt von einer jungen Frau, die alles andere als einen guten Start ins Leben findet. In Urlau ging es um das Buch, mit dem sie 2019 auf der „Longlist“des Deutschen Buchpreises stand, und dessen Begleitumstände.
Köhler ist Schriftstellerin, Schauspielerin und Dramatikerin – genau in dieser Reihenfolge. Ann-Katrin Lenke führte in Leben und Werk der 1974 in Hamburg Geborenen ein, wo sie bis heute ansässig ist, im Wechsel mit längeren, regelmäßigen Aufenthalten in Griechenland. Dass Köhler ursprünglich vom Schauspiel kommt, wird deutlich, sobald sie zu lesen beginnt.
Sie ist aber noch viel mehr: Drehbuchautorin, ausgebildete Fallschirmspringerin, und sie hat eine offene, direkte Art, die innerhalb weniger Minuten sämtliche Hemmschwellen abbaut: Sie unternehme gerade eine Mini-Lesereise, und es seien in der Tat die ersten Lesungen seit Dezember 2019. Dazwischen sei alles ausgefallen.
Mit Blick auf „Miroloi“habe sie das Gefühl, dass ihr Leben gerade eine Parallele ziehe zur Protagonistin. Diese bleibt anfangs namenlos, später heißt sie Alina und hat ein verkrüppeltes Bein. Nicht nur, dass Köhler gesundheitliche Probleme überwunden hat, auch ist jüngst ihr Vater gestorben, sie befinde sich in einem ziemlich zerrütteten Zustand. Dennoch ist nichts von der persönlich erlebten Tragik zu spüren, sobald sie in ihren Roman eintaucht.
Der knapp 500 Seiten starke Band ist in 128 Strophen gegliedert, keine lyrischen, kein Homer oder Odysseus, sondern Kapitel in Romanform. Köhler steigt emotional ein, nach wenigen Zeilen sind die Zuhörer mitten im Geschehen: Handlungsort ist ein einsames Dorf ohne Strom auf einer der Welt entrückten Insel. Hier beginnt die Geschichte des Mädchens als Findelkind, entdeckt in einer regennassen Winternacht vom Bethaus-Vater, der die Außenseiterin bei sich aufnimmt.
„So eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen“, begreift sie schnell. „Eselshure“nennen sie die alten Frauen, die auf dem Dorfplatz sitzen und Klagelieder singen. Es heißt „schönes Dorf“, nur ist es hier alles andere als schön. Alina ist eine junge Frau, die sich auflehnt, sich die Freiheit erkämpft und letztendlich an den Strukturen der Gesellschaft scheitert.
Atemlos folgen die Sätze dicht aufeinander. Zwischendrin flicht Köhler Rückblicke ein, wie es zu dem Roman gekommen ist. Angesiedelt sei er im Jahr 1982. Die Idee liege viele Jahre zurück, als sie auf Kreta durch ein Bergdorf fuhr und fünf Frauen in Schwarz auf Plastikstühlen sitzen sah. Da sei ihr klar gewesen, dass sie die Fremde ist. Viele Recherchen und Interviews habe sie mit Menschen in abgelegenen Gegenden gemacht; dort, wo von Fernsehern nur die Gehäuse übrig waren und dem Vieh als Futtertrog dienten.
Sie lacht und schickt Alina in Strophe 28 in die Einsiedelei, wo sie sich in den Betschüler Jakup Jakupsohn verliebt. Sie versucht ihn zu vergessen – beim Aufwachen, beim Atmen, beim „In-der-Welt-Sein“. Das kommt einem irgendwie bekannt vor. Mit einem Trommelfeuer aus jauchzen, springen, sich teilen, blöken wie ein Schaf, pochen, pulsieren, dampfen, iahen wie ein Esel, stöhnen, brausen wie das Meer stürzt sie Alina in einen Gefühlsrausch, der sich zu überschlagen droht.
Köhler lebt ihren Roman mit Haut und Haar. „Soll ich noch weiter lesen?“, fragt sie nach einer Stunde. Natürlich! Sie interessiere sich beim Schreiben für Strukturen und nennt als Beispiel Sexismus. Sie habe die Mechanik herausstellen wollen, wie Gewalt und Unterdrückung funktionieren. Wenn Alina nicht ihr eigenes Miroloi singt, wird es keiner für sie tun, ist die Autorin sicher. Dann zückt Köhler ihr Handy und spielt das Miroloi eines in den USA lebenden Exil-Griechen ab.
„Soll ich noch weiter lesen?“
Karen Köhler nach einer Stunde Lesung