Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Ein Plädoyer für Europa und für die Provinz

Früherer SPD-Vorsitzend­er Martin Schulz zu Gast bei SPD-Kreisverbä­nden Ravensburg und Biberach

- Von Gerd Mägerle

- Ein flammendes Plädoyer für die deutschfra­nzösische Freundscha­ft und die Europäisch­e Union hat der frühere SPD-Vorsitzend­e Martin Schulz am Sonntag beim Neujahrsem­pfang der SPD-Kreisverbä­nde Biberach und Ravensburg im Hans-Liebherr-Saal der Biberacher Stadthalle gehalten. Und auch Biberach selbst bekam von Schulz, der inzwischen Vorsitzend­er der Friedrich-Ebert-Stiftung ist, noch ein Sonderlob.

Bereits vor vier Jahren hatte Schulz, der von 2012 bis 2017 auch EU-Parlaments­präsident war, beim Neujahrsem­pfang der Kreis-SPD gesprochen, damals in Fischbach. Damals habe der hiesige Bundestags­abgeordnet­e Martin Gerster einen Stadtrundg­ang mit ihm gemacht, erzählte der 67-Jährige den rund 90 Besuchern in der Stadthalle. „Biberach hat mich damals tief beeindruck­t und mich motiviert über den Begriff der Provinz nachzudenk­en.“Er selbst, so Schulz, sei im Bundestags­wahlkampf 2017 von den Hauptstadt­medien als der „durchschni­ttliche Provinzfuz­zi mit Kassengest­ell, der Anzüge von der Stange trägt“abgestempe­lt worden. „Ich habe etwas dagegen, wenn man immer so tut, als gäbe es nur Berlin-Mitte“, so Schulz. „Vielleicht ist das Schuften der vielen Menschen in der sogenannte­n Provinz für den Wohlstand dieses Landes mindestens soviel wert wie Berlin-Mitte.“

Deshalb sei der Besuch 2017 in Biberach für ihn so wichtig gewesen, bei dem er erfahren habe, dass hier Weltkonzer­ne sitzen, es ein seit 400 Jahren bestehende­s Simultaneu­m der beiden Konfession­en gebe und mit der ersten Shakespear­e-Aufführung in deutscher Sprache ein Stück deutsch-englische Kulturgesc­hichte geschriebe­n worden sei. „Der Reichtum eines Landes ist nicht die Propaganda seiner Hauptstadt, sondern die Leistung der Menschen im gesamten Land. Provinz ist deshalb kein Schimpfwor­t, sondern ein Grund, stolz zu sein“, so Schulz.

Schulz nahm den 60. Jahrestag der Unterzeich­nung des Élysée-Vertrags zum Anlass für ein flammendes Plädoyer. Der Vertrag bilde die Grundlage der deutsch-französisc­hen Kooperatio­n und sei ein Stützpfeil­er der europäisch­en Zusammenar­beit.

Doch die Europäisch­e Union sei nicht in ihrem besten Zustand, räumte Martin Schulz ein. „Statt Kriege auf dem Schlachtfe­ld führen wir mitunter Papierkrie­ge in Brüssel. „Aber selbst an ihrem schlechtes­ten Tag ist

die EU ein weltweites Beispiel für ein Friedenspr­ojekt, das es zu erhalten gilt.“

Mit Blick auf das Krisenjahr 1923 mit seiner Hyperinfla­tion riet Schulz zur Wachsamkei­t. Die Rhetorik der 1920er-Jahre höre er heute wieder verstärkt, unter anderem von der

AfD im Bundestag. „Das ist eine Hetze, die ich so im Bundestag nicht für möglich gehalten hätte.“Aber auch in Frankreich bediene Marine Le Pen derartige Ressentime­nts.

Schulz wies darauf hin, dass jemand, der heute ein hohes Staatsamt in einem EU-Land anstrebe, sich darüber im Klaren sein sein müsse, dass damit auch Verantwort­ung für alle anderen Mitgliedsl­änder verbunden sei. „Was politisch in Deutschlan­d oder Frankreich geschieht, ist relevant für alle anderen Länder im Euroraum.“

Die europäisch­e Idee müsse lauten: „Alle gemeinsam, nicht: Mein Land zuerst.“Wohin letzteres führe, zeige der Brexit, der einen „Prozess der Verelendun­g“in Gang gesetzt habe.

Auch auf die aktuellen Unstimmigk­eiten zwischen Deutschlan­d und Frankreich in der Ukrainepol­itik ging Schulz ein. „Deutschlan­d ist der größte Finanzier der Ukraine in Europa und der drittgrößt­e Waffenlief­erant, Frankreich ist Atommacht mit Vetorecht im UN-Sicherheit­srat. Aus diesen Interessen­lagen entstehen Spannungen, das ist normal“, so Schulz.

Wichtig sei aus europäisch­er Sicht, sich beim Thema Ukraine nicht spalten zu lassen. „Im Kreml sitzen Leute, die die Spaltung in Europa und den Alleingang eines Landes geradezu herbeisehn­en“, so Schulz. „Wenn wir uns spalten lassen, haben die schon gewonnen.“Die Debatte um Waffenlief­erungen habe inzwischen mehr mit der deutschen Innenpolit­ik zu tun als mit dem

Krieg in der Ukraine, so der SPD-Politiker. „Den Vorwurf, Deutschlan­d handle eigensinni­g, höre ich nur in Deutschlan­d. Die Nato und ihr Generalsek­retär sind sehr dankbar für das deutsche Engagement.“

Schulz betonte zum Abschluss seiner rund einstündig­en Rede, für die er stehende Ovationen erhielt, nochmals den europäisch­en Gemeinscha­ftsgedanke­n. „Nur gemeinsam sind wir stark gegen China, die USA oder Indien. Mit denen können wir nicht mehr mithalten, wenn wir versuchen, Probleme in der Größenordn­ung ,Luxemburg gegen Indien’ zu lösen.“

Der Biberacher Landrat Mario Glaser dankte der SPD für die gute und bewährte Zusammenar­beit auf Kreisebene. „Auch die gute Zusammenar­beit mit der Bundespoli­tik werden wir fortsetzen und vertiefen“, sagte Glaser in Richtung des SPD-Abgeordnet­en Martin Gerster.

Dieser widmete sich in einem kurzen Statement der Ukrainepol­itik des Bundes. Er sei froh, so Gerster, „dass wir mit Olaf Scholz einen Bundeskanz­ler haben, der nicht die stündliche­n Rufe nach mehr und schwereren Waffen umsetzt, sondern sich mit den Partnern abstimmt und überlegt, was die richtige Antwort ist.“

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FOTO: GERD MÄGERLE Martin Schulz stellte die deutsch-französisc­he Freundscha­ft und die EU in den Mittelpunk­t seiner Rede beim SPD-Neujahrsem­pfang in Biberach.

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