Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Weniger Aufwand für Patienten, mehr Ärger für Ärzte
Krankmeldungen sind seit Anfang 2023 komplett elektronisch – Arbeitgeber und Ärzte bisher skeptisch
- Seit Anfang des Jahres müssen Arbeitnehmer weder bei ihrer Krankenkasse noch beim Arbeitgeber den gelben Arbeitsunfähigkeitszettel abgeben. Die neue elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) soll den Patienten schützen und Abläufe schlanker machen. Im Kreis Ravensburg sind die ersten Eindrücke der Ärzte und Arbeitgeber gespalten. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens erscheint aktuell eher als Bürde anstatt Entlastung. Vier Erkenntnisse nach fünf Wochen eAU.
1. Das neue Verfahren schützt die Arbeitnehmer
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Schon seit Anfang 2022 leiten Ärzte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen elektronisch an die Krankenkassen weiter. Seit dem 1. Januar 2023 ist es für Patienten noch gemütlicher. Denn Beschäftigte müssen ihrem Arbeitgeber keine ausgedruckte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mehr vorlegen. Beim neuen eAUVerfahren müssen Arbeitgeber die elektronischen Bescheinigungen direkt bei den jeweiligen Krankenkassen abrufen.
„Ich finde das Verfahren grundsätzlich gut“, sagt Brigitte SchulerKuon, Hausärztin aus Leutkirch. Ein Beschäftigter müsse sich während seiner Krankheit nun keine Mühe mehr machen, dem Arbeitgeber die Bescheinigung zukommen zu lassen. Noch wichtiger: Besonders bei Langzeitkranken sei es wichtig, dass die Informationen vom Arzt direkt an die Krankenkassen gehen – damit dann auch Krankengeld fließt. Zuvor habe es durchaus Fälle gegeben, in denen die Patienten die Bescheinigung nicht verschickt haben und dann zu spät oder gar kein Geld bekommen hätten, so Schuler-Kuon.
2. Für Arbeitgeber ist das neue Verfahren die größte Veränderung
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Die Umstellung zum Jahreswechsel bedeutet vor allem für Unternehmen eine Belastung – die müssen nun aktiv die Bescheinigung abrufen, teilweise auch ihre IT-Infrastrukur anpassen. Vetter habe sich bereits Mitte 2022 mit der Einführung der eAU beschäftigt, sagt Unternehmenssprecher Markus Kirchner auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“. Für die Einführung hätten verschiedene Abteilungen des Pharmadienstleisters zusammengearbeitet, das alles habe rund 250 Arbeitsstunden in Anspruch genommen.
Auch der deutlich kleinere Arbeitgeber Birk Bau aus Aitrach habe sich schon seit Längerem auf diese Veränderung vorbereitet, sagt Heike Kahnert aus dem kaufmännischen
Büro. Ein großer Aufwand sei die Umstellung jedoch nicht gewesen, da das eAU-Verfahren in das bestehende Lohnprogramm automatisch eingespielt wurde. „Zusätzliche Kosten sind nicht aufgetreten.“
Die Arbeitgeber begrüßen grundsätzlich das neue Verfahren, haben aber auch Kritikpunkte. Der Überblick über die Fehlzeiten sei aktuell noch schlecht, sagt Robert J. Bielesch, Sprecher des Wohnmobilherstellers Dethleffs. Teilweise würden auch immer noch Papierbescheinigungen eingehen, die dann zu einem doppelten Aufwand führen können.
Die elektronisch übermittelten Rückmeldungen der Krankenkassen seien zudem nicht immer eindeutig, sagt Vetter-Sprecher Kirchner. Es komme vor, dass abweichende Daten zurückgemeldet werden, „die unsererseits nochmals telefonisch oder per E-Mail geklärt werden“, so Kirchner.
Bei Birk Bau funktioniert zwar die technische Abwicklung, sagt Kahnert. „Das Problem ist eher, dass wir
nach wie vor auf die Kommunikation unserer Mitarbeiter angewiesen sind.“Ihre Planung vereinfache sich also nicht wirklich.
3. Die eAU treibt die Krankenstatistik
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Zur Erinnerung: Schon seit Anfang 2022 übermitteln Ärzte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen elektronisch an die Kassen. Das hat eine skurrile Folge: Der Krankenstand steigt.
Laut Pressemitteilung der DAKVersicherung fehlten Beschäftigte 2022 im Durchschnitt fast 20 Tage mit einer Krankschreibung im Job. Das ist ein Anstieg von 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das hänge zum Teil mit der elektronischen Meldung zusammen, erklärt die DAK. Denn dadurch tauchen nun auch Krankheitsfälle in der Statistik auf, die in der Vergangenheit nicht erfasst wurden. Der Grund ist simpel: Vor der elektronischen Übermittlung haben einige erkrankten Arbeitnehmer ihre gelben Zettel schlicht liegengelassen – diese Fälle haben nie die Kassen und damit auch nicht die Statistik erreicht. Durch die elektronische Krankmeldung gebe es nun eine wesentlich geringere Dunkelziffer, so die DAK.
4. Ärzte sind unzufrieden mit Digitalisierung
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„Für die Praxen stellt die eAU einen zusätzlichen Aufwand dar“, sagt der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, Kai Sonntag. Seit der Einführung der elektronischen Übermittlung 2022 gebe es immer wieder technische Probleme, berichtet auch Hans Bürger, Vorsitzender der Kreisärzteschaft. Entweder könne er die Bescheinigungen gar nicht verschicken, oder jede einzelne Übermittlung dauere ein paar Minuten.
Zwar seien die technischen Aussetzer nicht mehr so zahlreich, sagt Bürger, dennoch: „Da kommt jeden Tag einiges an Arbeitszeit zusammen.“
„Alles ist sehr instabil gestrickt“, bestätigt Brigitte Schuler-Kuon die technischen Probleme und berichtet von anderen Schwierigkeiten rund um die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Zum Beispiel müsste sie nach nur fünf Jahren bereits ihre Konnektoren auswechseln – die Geräte dienen der sicheren Kommunikation zwischen den Praxen und der IT-Infrastruktur der Krankenkassen. Und nicht nur Schuler-Kuon muss ihre Konnektoren wechseln, sondern alle Hausärzte. Der renommierte Chaos-Computer-Club hat berechnet, dass der aktuelle Konnektoren-Austausch das deutsche Gesundheitssystem rund 400 Millionen Euro kostet.
Eigentlich sollte die Digitalisierung die Kommunikation zwischen Ärzten, Krankenkassen und Apotheken schneller und schlanker machen. Davon zeige sich aber noch nichts, sagen Schuler-Kuon und Bürger. „Aktuell haben wir sogar höhere Betriebskosten“, so Bürger. Ihm fehle das große Bild, ein klarer Plan, für ein digitalisiertes Gesundheitswesen. Die Hausärzte würden alle Pläne mitgehen, sagt Bürger. Der Impuls und die Struktur müsse jedoch von der Bundespolitik kommen. Da sei jahrelang viel zu wenig passiert.
„Alles ist sehr instabil gestrickt.“
Brigitte Schuler-Kuon, Hausärztin aus Leutkirch