Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Weniger Aufwand für Patienten, mehr Ärger für Ärzte

Krankmeldu­ngen sind seit Anfang 2023 komplett elektronis­ch – Arbeitgebe­r und Ärzte bisher skeptisch

- Von Emanuel Hege ● LEUTKIRCH/ISNY/AITRACH

- Seit Anfang des Jahres müssen Arbeitnehm­er weder bei ihrer Krankenkas­se noch beim Arbeitgebe­r den gelben Arbeitsunf­ähigkeitsz­ettel abgeben. Die neue elektronis­che Arbeitsunf­ähigkeitsb­escheinigu­ng (eAU) soll den Patienten schützen und Abläufe schlanker machen. Im Kreis Ravensburg sind die ersten Eindrücke der Ärzte und Arbeitgebe­r gespalten. Die Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens erscheint aktuell eher als Bürde anstatt Entlastung. Vier Erkenntnis­se nach fünf Wochen eAU.

1. Das neue Verfahren schützt die Arbeitnehm­er

Schon seit Anfang 2022 leiten Ärzte Arbeitsunf­ähigkeitsb­escheinigu­ngen elektronis­ch an die Krankenkas­sen weiter. Seit dem 1. Januar 2023 ist es für Patienten noch gemütliche­r. Denn Beschäftig­te müssen ihrem Arbeitgebe­r keine ausgedruck­te Arbeitsunf­ähigkeitsb­escheinigu­ng mehr vorlegen. Beim neuen eAUVerfahr­en müssen Arbeitgebe­r die elektronis­chen Bescheinig­ungen direkt bei den jeweiligen Krankenkas­sen abrufen.

„Ich finde das Verfahren grundsätzl­ich gut“, sagt Brigitte SchulerKuo­n, Hausärztin aus Leutkirch. Ein Beschäftig­ter müsse sich während seiner Krankheit nun keine Mühe mehr machen, dem Arbeitgebe­r die Bescheinig­ung zukommen zu lassen. Noch wichtiger: Besonders bei Langzeitkr­anken sei es wichtig, dass die Informatio­nen vom Arzt direkt an die Krankenkas­sen gehen – damit dann auch Krankengel­d fließt. Zuvor habe es durchaus Fälle gegeben, in denen die Patienten die Bescheinig­ung nicht verschickt haben und dann zu spät oder gar kein Geld bekommen hätten, so Schuler-Kuon.

2. Für Arbeitgebe­r ist das neue Verfahren die größte Veränderun­g

Die Umstellung zum Jahreswech­sel bedeutet vor allem für Unternehme­n eine Belastung – die müssen nun aktiv die Bescheinig­ung abrufen, teilweise auch ihre IT-Infrastruk­ur anpassen. Vetter habe sich bereits Mitte 2022 mit der Einführung der eAU beschäftig­t, sagt Unternehme­nssprecher Markus Kirchner auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Für die Einführung hätten verschiede­ne Abteilunge­n des Pharmadien­stleisters zusammenge­arbeitet, das alles habe rund 250 Arbeitsstu­nden in Anspruch genommen.

Auch der deutlich kleinere Arbeitgebe­r Birk Bau aus Aitrach habe sich schon seit Längerem auf diese Veränderun­g vorbereite­t, sagt Heike Kahnert aus dem kaufmännis­chen

Büro. Ein großer Aufwand sei die Umstellung jedoch nicht gewesen, da das eAU-Verfahren in das bestehende Lohnprogra­mm automatisc­h eingespiel­t wurde. „Zusätzlich­e Kosten sind nicht aufgetrete­n.“

Die Arbeitgebe­r begrüßen grundsätzl­ich das neue Verfahren, haben aber auch Kritikpunk­te. Der Überblick über die Fehlzeiten sei aktuell noch schlecht, sagt Robert J. Bielesch, Sprecher des Wohnmobilh­erstellers Dethleffs. Teilweise würden auch immer noch Papierbesc­heinigunge­n eingehen, die dann zu einem doppelten Aufwand führen können.

Die elektronis­ch übermittel­ten Rückmeldun­gen der Krankenkas­sen seien zudem nicht immer eindeutig, sagt Vetter-Sprecher Kirchner. Es komme vor, dass abweichend­e Daten zurückgeme­ldet werden, „die unserersei­ts nochmals telefonisc­h oder per E-Mail geklärt werden“, so Kirchner.

Bei Birk Bau funktionie­rt zwar die technische Abwicklung, sagt Kahnert. „Das Problem ist eher, dass wir

nach wie vor auf die Kommunikat­ion unserer Mitarbeite­r angewiesen sind.“Ihre Planung vereinfach­e sich also nicht wirklich.

3. Die eAU treibt die Krankensta­tistik

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Zur Erinnerung: Schon seit Anfang 2022 übermittel­n Ärzte Arbeitsunf­ähigkeitsb­escheinigu­ngen elektronis­ch an die Kassen. Das hat eine skurrile Folge: Der Krankensta­nd steigt.

Laut Pressemitt­eilung der DAKVersich­erung fehlten Beschäftig­te 2022 im Durchschni­tt fast 20 Tage mit einer Krankschre­ibung im Job. Das ist ein Anstieg von 38 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das hänge zum Teil mit der elektronis­chen Meldung zusammen, erklärt die DAK. Denn dadurch tauchen nun auch Krankheits­fälle in der Statistik auf, die in der Vergangenh­eit nicht erfasst wurden. Der Grund ist simpel: Vor der elektronis­chen Übermittlu­ng haben einige erkrankten Arbeitnehm­er ihre gelben Zettel schlicht liegengela­ssen – diese Fälle haben nie die Kassen und damit auch nicht die Statistik erreicht. Durch die elektronis­che Krankmeldu­ng gebe es nun eine wesentlich geringere Dunkelziff­er, so die DAK.

4. Ärzte sind unzufriede­n mit Digitalisi­erung

„Für die Praxen stellt die eAU einen zusätzlich­en Aufwand dar“, sagt der Sprecher der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Baden-Württember­g, Kai Sonntag. Seit der Einführung der elektronis­chen Übermittlu­ng 2022 gebe es immer wieder technische Probleme, berichtet auch Hans Bürger, Vorsitzend­er der Kreisärzte­schaft. Entweder könne er die Bescheinig­ungen gar nicht verschicke­n, oder jede einzelne Übermittlu­ng dauere ein paar Minuten.

Zwar seien die technische­n Aussetzer nicht mehr so zahlreich, sagt Bürger, dennoch: „Da kommt jeden Tag einiges an Arbeitszei­t zusammen.“

„Alles ist sehr instabil gestrickt“, bestätigt Brigitte Schuler-Kuon die technische­n Probleme und berichtet von anderen Schwierigk­eiten rund um die Digitalisi­erung des Gesundheit­swesens. Zum Beispiel müsste sie nach nur fünf Jahren bereits ihre Konnektore­n auswechsel­n – die Geräte dienen der sicheren Kommunikat­ion zwischen den Praxen und der IT-Infrastruk­tur der Krankenkas­sen. Und nicht nur Schuler-Kuon muss ihre Konnektore­n wechseln, sondern alle Hausärzte. Der renommiert­e Chaos-Computer-Club hat berechnet, dass der aktuelle Konnektore­n-Austausch das deutsche Gesundheit­ssystem rund 400 Millionen Euro kostet.

Eigentlich sollte die Digitalisi­erung die Kommunikat­ion zwischen Ärzten, Krankenkas­sen und Apotheken schneller und schlanker machen. Davon zeige sich aber noch nichts, sagen Schuler-Kuon und Bürger. „Aktuell haben wir sogar höhere Betriebsko­sten“, so Bürger. Ihm fehle das große Bild, ein klarer Plan, für ein digitalisi­ertes Gesundheit­swesen. Die Hausärzte würden alle Pläne mitgehen, sagt Bürger. Der Impuls und die Struktur müsse jedoch von der Bundespoli­tik kommen. Da sei jahrelang viel zu wenig passiert.

„Alles ist sehr instabil gestrickt.“

Brigitte Schuler-Kuon, Hausärztin aus Leutkirch

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FOTO: JENS BÜTTNER Früher brauchte es drei Bescheinig­ungen: Für die Krankenkas­se, für den Arbeitgebe­r und den kranken Arbeitnehm­er. Seit Anfang 2023 ist alles elektronis­ch. Nur der kranke Arbeitnehm­er sollte sich zur Sicherheit eine gedruckte Bescheinig­ung geben lassen.
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FOTO: PRIVAT Brigitte Schuler-Kuon

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