Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Professor in Tarnfleck

Der ukrainisch­e Historiker und Soldat Ihor Zhaloba sieht in Russland ein Kolonialre­ich im Niedergang

- Von Ulrich Mendelin ●

- An dem Tag, als Russland die letzten Vorbereitu­ngen für den Einmarsch in die Ukraine traf, stand Ihor Zhaloba in einem Hörsaal in Kiew. „Diese oder nächste Nacht gibt es Krieg“, habe er seinen Studenten gesagt, erinnert sich der Professor, der damals am Historisch­en Institut der Nationalen Akademie für Wissenscha­ften der Ukraine lehrte. Viele Studenten hätten Angst gehabt, viele hätten Fragen gestellt, erinnert sich Zhaloba. Er selbst habe nach der Vorlesung sein Auto vollgetank­t und sich beim Militärkom­missariat gemeldet. Seitdem dient der Historiker, nach einer jahrzehnte­langen wissenscha­ftlichen Karriere, als einfacher Soldat in der Territoria­lverteidig­ung der Ukraine.

Ein Jahr später ist Zhaloba, der dank eines Forschungs­aufenthalt­s in Österreich in den 1990erJahr­en gut deutsch spricht, zu Gast in Deutschlan­d, mit einer Sondergene­hmigung der Armee. Normalerwe­ise dürfen ukrainisch­e Männer im wehrfähige­n Alter das Land nicht verlassen. Der 59-Jährige ist aber auf einer speziellen Mission, er erläutert den Deutschen die ukrainisch­e Sicht auf den russischen Angriffskr­ieg.

Zum Gespräch bei der „Schwäbisch­en Zeitung“erscheint der Professor in Uniform, das ist Teil der Vorschrift­en für seine Dienstreis­e. Gleichzeit­ig spricht Zhaloba als Präsident der PaneuropaU­nion, die sich für die Zusammenar­beit in Europa einsetzt. Diese Bewegung ist auch in Deutschlan­d aktiv, sie begleitet Zhalobas Reise, die ihn unter anderem nach Ulm und Ravensburg geführt hat.

Zhaloba stammt aus der Gegend von Czernowitz in der Westukrain­e. Seine ursprüngli­che militärisc­he Erfahrung ist überschaub­ar, in den frühen 1980erJahr­en wurde er in der Artillerie ausgebilde­t. „Wir haben mehr mit den sowjetisch­en Offizieren gestritten als geübt“, erinnert er sich an seine Zeit in der Roten Armee. „Diese politische­n Sachen, das hat damals schon begonnen.“

Wie sich ein Infanteris­t bewegt, als der er heute dient, das hat der Historiker erst im gesetzten Alter gelernt. Da hatte er schon die Leitung von drei Lehrstühle­n für internatio­nale Beziehunge­n an verschiede­nen Universitä­ten in Kiew inne gehabt sowie

fünf Jahre lang die Diplomaten­ausbildung des ukrainisch­en Außenminis­teriums geleitet. Nun dient er in einer Einheit, die zeitweise in der schwer umkämpften Stadt Bachmut im Einsatz war. Er selbst war statt an der Front im Krankenhau­s, weil er sich beim Training unter der schweren Schutzklei­dung eine Lungenentz­ündung zugezogen hatte.

Dass es zu einem Krieg kommen würde, damit hatte der Professor nach eigener Aussage gerechnet, sei damit aber unter seinen Landsleute­n in der Minderheit gewesen. „Ich habe den Nachrichte­n in den russischen Propaganda­medien zugehört“, berichtet er. „Da war für mich klar, wie sie die Bevölkerun­g in Russland auf Krieg vorbereite­n.“

Dabei habe der Überfall nur eine neue Phase des Konflikts eingeläute­t. „Wir haben diesen Krieg seit 2014, das muss man verstehen“, sagt Zhaloba mit Blick auf die völkerrech­tswidrige Annexion der Krim und die gewaltsame Abspaltung des Donbass.

Wenn er über Russlands Position in der Welt und das Streben der Ukraine nach Westen

spricht, dann merkt man Zhaloba den Historiker an. Er hält eine Palastrevo­lte gegen Russlands Präsident Wladimir Putin nicht für ausgeschlo­ssen. „In Russland mag man einen starken Führer“, sagt er. „Und im Moment sieht Putin nicht so stark aus wie vor einem Jahr.“Russland selbst sei das letzte Kolonialre­ich. „Diese Reiche gehen zu Grunde, und das führt zu Spannungen an den Grenzen.“

Das klingt gar nicht so anders wie Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew. Der sagte kürzlich: „Wenn Russland die militärisc­he Spezialope­ration beendet ohne einen Sieg, dann wird es Russland nicht mehr geben, es wird in Teile zerrissen.“Was Medwedew als Warnung formuliert­e, ist aus Zhalobas Sicht der wahrschein­lichste Gang der Dinge. „Russland soll zu seinen natürliche­n Grenzen kommen“, sagt er und meint damit den westlichen Teil bis zum Ural oder ein Stück darüber hinaus. „Dann können sich die Menschen in Russland entscheide­n, ob sie Teil Europas oder Teil Asiens sein wollen.

Die Ukraine dagegen, sagt Zhaloba, hat sich längst entschiede­n: „Wir sind geografisc­h im Zentrum Europas und wollen Teil des politische­n Zentrums Europas sein.“Aus Sicht der EU hat die Ukraine in vielen Bereichen noch nicht europäisch­e Standards erreicht, vor allem die Korruption ist weiterhin ein Problem. Man bemühe sich aber um Transparen­z und unabhängig­e Gerichte, hält Zhaloba dem entgegen. Zwar habe er seine Landsleute lange vor einem überstürzt­en EU-Kurs gewarnt. Er habe der verbreitet­en Erwartung widersproc­hen, das Brüssel alle Probleme der Ukraine lösen werde.

Mit Blick auf die Euromaidan­Proteste von 2014 und die demokratis­chen Machtwechs­el in Kiew, die ganz im Gegensatz zur Ein-Mann-Herrschaft im Kreml stehen, sagt Zhaloba heute aber: „Wir sind erwachsene­r geworden.“Er ist überzeugt, dass die Ukraine für Europa auch einen Mehrwert bieten kann. „Die Ukraine musste sich unter Druck schnell reformiere­n, davon können auch westliche Länder lernen.“Reformbeda­rf bestehe schließlic­h nicht nur im Osten des Kontinents.

In den nächsten Tagen kehrt Ihor Zhaloba in die Ukraine zurück. Nach einem kurzen Aufenthalt in Kiew wird er sich wieder seiner Einheit anschließe­n. Sie ist derzeit im Zentrum der Ukraine nahe dem Dnjepr stationier­t, trainiert die Zusammenar­beit mit Drohnenpil­oten und ist in die Luftabwehr eingebunde­n. Wie lange, ist unklar. „Jede Sekunde kann ein Befehl kommen“, sagt der Professor. Vielleicht geht es schon bald an die Front.

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FOTO: ALEXIS ALBRECHT Der Historiker Ihor Zhaloba hat in Kiew Internatio­nale Beziehunge­n gelehrt, nun dient er als Soldat der ukrainisch­en Territoria­lverteidig­ung.

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