Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Ein Trinker und Täuscher

Ein Allgäuer beschreibt seinen Weg vom Gelegenhei­tstrinker zum Süchtigen

- Von Judith Schneider

- Der Mann passt nicht ins Bild des klassische­n Trunkenbol­ds. Er hat eine Familie, Kinder, ein Haus und arbeitet als Ingenieur. Ein vermeintli­ches Bilderbuch­leben. Aber er war jahrelang alkoholkra­nk. Ist es immer noch: „Heilung gibt es nicht“, sagt der Allgäuer, der seinen Namen nicht nennen möchte. Angefangen hat es ganz harmlos: „Beim Fußball habe ich immer gerne getrunken, und auch in der Familie war das ganz normal“, erzählt er. Eben so, wie das bei vielen sei.

Eine ganze Badewanne voll Bier, Wein, Sekt und Spirituose­n trinken Deutsche durchschni­ttlich pro Jahr – 130 Liter, sagt die Deutsche Hauptstell­e für Suchtfrage­n (DHS). Die Caritas, die im Allgäu fünf Suchtfacha­mbulanzen betreibt, berät dort mehr als 1000 Alkoholsüc­htige pro Jahr.

Darunter seien Männer, Frauen, Alte, Junge, Reiche, Arme, Menschen mit gutem sozialem Umfeld und welche, die ausgegrenz­t sind, veranschau­licht Barbara Habermann, die bei der Caritas Augsburg den Bereich Sucht und Psychatrie leitet. Auch der 62-jährige trockene Alkoholike­r aus dem Allgäu sagt: „Ich behaupte, es kann jeden erwischen. Das hat nichts mit Bildung, Vernunft oder Intelligen­z zu tun, auch nicht mit Willensstä­rke“.

Über sich erzählt er: „Ich war schon immer einer, der mehr getrunken hat als die Anderen, aber ich hatte am Anfang nicht das Bedürfnis alleine zu trinken oder untertags.“Der Mann trank über die Jahre hinweg langsam immer mehr, ohne konkreten Auslöser, ohne klaren Grund: „Ich hatte nicht ständig einen Alkoholpeg­el, sondern hab auch mal ein bis zwei Tage nichts getrunken.“Unbemerkt blieb der Konsum nicht: „Meiner Frau ist aufgefalle­n, dass ich viel trinke und auch Freunden und Kollegen. Die haben mich darauf angesproch­en, aber selbst will man sich das nicht eingestehe­n.“Er spielte es herunter, trank heimlich. „Man will nicht auffallen, man will einfach ganz normal weiter machen“.

Laut der Deutschen Hauptstell­e für Suchtfrage­n trinken etwa 16 Prozent der erwachsene­n Männer und 11 Prozent der Frauen riskante Mengen Alkohol. Riskant bedeutet für Frauen 10 Gramm Reinalkoho­l pro Tag, das entspricht 0,3 Litern Bier. Für Männer gilt die doppelte Menge als kritisch. Wer mehr trinkt, hat ein deutlich höheres Risiko für alkoholbed­ingte Erkrankung­en.

Bei dem 62-jährigen Allgäuer bestimmte der Alkohol Stück für Stück, Schluck für Schluck, immer mehr den Alltag: „Irgendwann habe ich auch in der Firma getrunken, wenn ich länger gearbeitet habe, wenn ich wusste, niemand bekommt es mit. Das war dann eine Flasche Wein, später auch Schnaps.“Seine Gedanken waren immer öfter bei dem Rauschmitt­el: „Ich habe mir schon in der Früh überlegt: Wo kaufe ich mir was? Und wann trinke ich das dann?“Sein Leben drehte sich um den Alkohol und sein Kopf drehte sich vom Alkohol.

Wie hat der Mann es geschafft, da wieder herauszuko­mmen? „Es gibt wenige, die sich von selbst dafür entscheide­n“, sagt der 62-Jährige. Bei ihm war der Auslöser der Druck von Familie und Freunden. Er ging zu einer Beratungss­telle, hatte Einzelgesp­räche mit einem Suchtthera­peuten, immer wieder, über einen Zeitraum von etwa einem Jahr. Aber mit dem Trinken aufgehört hat er während dieser Zeit nicht. Erst eine Langzeit-Reha half. 16 Wochen war der Allgäuer in einer Suchtklini­k. Dort machte er einen Entzug und ist, wie er sagt, zu einem anderen Menschen geworden. Einem, der nicht mehr zu allem ja sagt.

Laut Barbara Habermann sind solche Behandlung­en meist erfolgreic­h. Mehr als die Hälfte der Menschen, die eine stationäre oder ambulante Therapie machen, sind auch ein Jahr danach noch trocken, sagt die Suchtberat­erin.

Für den Allgäuer war die Abhängigke­it nach der Reha noch nicht überwunden. „Es gibt natürlich die Gefahr, wenn man zurückkomm­t, dass man in den alten Trott zurückfäll­t. Ich hatte auch Rückfälle nach der Therapie“, sagt er. Auslöser waren für den 62-Jährigen besonders Dinge, die mit Schnaps zu tun haben, auch so etwas wie Werbung. „Erstaunlic­herweise war das gar nicht, wenn es mir schlecht ging. Im Gegenteil, die Rückfälle sind immer passiert, wenn ich hoch motiviert war.“Er trank dann zum Beispiel, um sich für etwas zu belohnen, dachte, er hätte es unter Kontrolle. „Danach habe ich mir natürlich Selbstvorw­ürfe gemacht“, gesteht der Allgäuer, aber er macht auch Mut: „Sobald man dazu steht, ist der Rückfall vorbei.“Der 62-Jährige geht inzwischen relativ offen mit seiner Alkoholsuc­ht um: „Wenn es jemand wissen will, spreche ich schon darüber, und in meinem Bekanntenk­reis wissen es sowieso alle.“

Bis heute geht der Mann zu einer Selbsthilf­egruppe. Auch um andere zu unterstütz­en. Er sagt: „Es ist nie zu Ende, auch wenn man meint, es geht gar nichts mehr.“

Im Suchthilfe­verzeichni­s der DHS finden Betroffene und deren Angehörige passende Hilfsangeb­ote in der Nähe. Beispielsw­eise die Caritas hat Beratungss­tellen in mehreren Städten im Allgäu.

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FOTOMONTAG­E: GEPPERT/BECKER (SYMBOLBILD) Selbstbild und Realität klaffen auseinande­r – das ist bei Alkoholike­rn häufig der Fall. Meist hilft nur eine Therapie. Hilfsangeb­ote gibt es auch im Allgäu.

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