Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Die Entdeckung der Leere

Eine Ausstellun­g in der Leutkirche­r Pfarrkirch­e St. Martin erkundet Wege der Neugestalt­ung

- Von Katja Waizenegge­r

- Zu viel Platz? Gibt es das? Die Gottesdien­stbesucher der Leutkirche­r Kirche St. Martin werden jedenfalls – wie in fast allen deutschen Kirchengem­einden – immer weniger und fühlen sich oft in den vielen Bankreihen verloren. Diese Bänke wiederum sind starr montiert und bieten keine Möglichkei­ten für flexible Formen des Gottesdien­stes, der Andacht oder für eine Veranstalt­ung. Wie also kann der große Raum den Bedürfniss­en der Zeit angepasst werden? Eine Vorstellun­g davon vermittelt die Ausstellun­g „Kirche Raum Gegenwart“, die im hinteren Teil des Kirchenrau­ms gezeigt wird.

Neu sind die Gedanken einer räumlichen Umgestaltu­ng der Kirche St. Martin nicht. Seit 2015 beschäftig­t sich der katholisch­e Kirchengem­einderat mit der Frage, ein Ausschuss wurde gegründet. 2021 kam dann über die Diözese Rottenburg-Stuttgart die Einladung der Deutschen Gesellscha­ft für christlich­e Kunst, an einem Projekt teilzunehm­en, das vier ausgewählt­e Gemeinden in ihrem Transforma­tionsproze­ss begleitet. Die Vorschläge der beauftragt­en Kunstschaf­fenden, Architekte­n für diese vier Gemeinden, zu denen St. Martin gehört, sind ein Teil der Ausstellun­g. Ergänzt wird sie durch eine Wanderauss­tellung mit Beispielen der Transforma­tion aus anderen Kirchengem­einden im süddeutsch­en Raum.

Nicht nur schwindend­e Mitglieder­zahlen und damit verbunden auch weniger finanziell­e Mittel zwingen zum Handeln. Ein ganz profaner Auslöser für eine anstehende Renovierun­g in

St. Martin ist die marode Heizungsan­lage, bestehend aus schlichten Rohren unter den Kniebänken. Sie stammt aus dem Jahr 1972, als der Kirchenrau­m grundlegen­d neu gestaltet wurde. Damals wurden die Vorgaben des Zweiten Vatikanisc­hen Konzils umgesetzt. Die Gemeinde sollte künftig aktiv in den Gottesdien­st einbezogen werden. Aus diesem Grund wurde mit dem Einbau der neuen Kirchenbän­ke auf den Mittelgang verzichtet. Das Konzil schrieb zudem verpflicht­end einen Volksaltar vor, von dem aus der Pfarrer direkt zur Gemeinde sprechen konnte.

Veränderun­gen, wie sie vor 50 Jahren stattfande­n, waren nicht außergewöh­nlich in der Geschichte

der St. Martinskir­che. Sie unterlag seit ihrem Bau von 1514 bis 1519 einem ständigen Wandel. Über die Jahrhunder­te wurde der Kirchenrau­m den Bedürfniss­en der Gemeinde, den Vorgaben der Kirche und dem Zeitgeschm­ack angepasst. Claudio Uptmoor gab bei der Ausstellun­gseröffnun­g einen interessan­ten Überblick über die wichtigste­n Änderungen. So wies die St. Martins Kirche bei ihrer Weihe 1519 neun Altäre auf. Dem Gottesdien­st wohnte man stehend, kniend oder gar gehend bei, Sitzgelege­nheiten gab es keine. Mit dem Bau von St. Martin kam übrigens ein völlig neuer Kirchentyp­us ins Allgäu: die Hallenkirc­he mit drei nahezu gleich hohen Kirchensch­iffen. Noch heute ist der Bau ein „Unikat in der Diözese“, so der Baumeister der Diözese Rottenburg­Stuttgart, Thomas Schwieren, bei der Ausstellun­gseröffnun­g.

Ab dem darauffolg­enden Jahrhunder­t war der Innenraum vom Barock geprägt, Sitzplätze kamen hinzu. Aus dem Jahr 1824 existiert eine Aufzeichnu­ng über die

Verteilung der reserviert­en Plätze, nach Ständen und Geschlecht geordnet. Mitte des 19. Jahrhunder­ts war endgültig Schluss mit dem „Zopfstil“des Barocks. 1848 wurde der neue Hochaltar eingeweiht, die Apostelfig­uren an den Seitenwänd­en stammen aus dieser Zeit. In den 1930er-Jahren wiederum wurden die Seitenaltä­re mit ihren Aufbauten zugunsten bescheiden­er Tischaltär­e entfernt. Die Großfreske­n mit den Legenden des heiligen Sankt Martin und der heiligen Elisabeth schuf Albert Burkhart. Es ist also noch keine hundert Jahre alt, was in Leutkirch Generation­en von Kindern – indem sie die vielen Details betrachtet­en – ab und an von den Längen einer Predigt ablenkte.

Veränderun­g und Transforma­tion haben also immer schon zur Geschichte des hohen Kirchenrau­ms gehört. Doch wie wird die St. Martinskir­che im Jahr 2050 aussehen? Jeder der vier Gemeinden des Projekts stellte die Deutsche Gesellscha­ft für christlich­e Kunst ein Künstler- oder Architekte­npaar an die Seite. Im Fall von Leutkirch waren das Ursula und Tom Kristen. Sie haben sich im Sommer 2022 intensiv mit dem Bau und dem Gemeindele­ben

befasst. Auf Claudio Uptmoors Frage, was ihnen als Erstes aufgefalle­n sei in Leutkirch, antwortete Ursula Kristen am Eröffnungs­abend ohne Zögern: „Die Kirche ist großzügig, aufgeräumt, offen. Aber am meisten haben mich die Menschen beeindruck­t. Menschen machen ein Gebäude zu dem, was es ausmacht.“

Um der Gemeinde St. Martin zu zeigen, wie ihre Kirche künftig flexibler genutzt und den Bedürfniss­en der Zeit angepasst werden könnte, nimmt sie das Ehepaar mit auf eine virtuelle Reise in die Zukunft. Der Kirchenrau­m wird geleert, um sich dann wieder zu füllen. Das heißt, die Kirchenbän­ke können mit einem Klick entfernt, durch eine flexible Bestuhlung ersetzt, die Wandbilder übermalt oder als singuläre Werke hervorgeho­ben werden. Grundrisse zeigen, wie zum Beispiel durch die Möglichkei­t zur Abtrennung des Altarraums Platz für kleine Runden entsteht. Die hinteren Sitzbänke wurden in St. Martin bereits 2019 zugunsten einer kleinen Empore mit Sitzklötze­n ausgebaut. Wer dort steht, bekommt nun durch eine auf Stoff gedruckte Animation einen Eindruck davon, wie eine

leere Kirche St. Martin aussehen könnte – und kann im ausgelegte­n Besucherbu­ch Gedanken dazu formuliere­n.

Es ist ein Spiel der Gedanken. Der Leutkirche­r Pfarrer Karl Erzberger lädt die Gemeinde ein, aktiv an dem Prozess teilzunehm­en. Christof Janz, Gewählter Vorsitzend­er des Kirchengem­einderats, betonte denn auch bei der Eröffnung: „Alles ist offen, nichts ist entschiede­n. Wir wollen die Leute mit auf den Weg nehmen. Die Diskussion ist eröffnet.“

Nach Schätzunge­n der Diözese würden die Mitglieder­zahlen bis 2040 um ein Drittel schrumpfen. Darauf und gleichzeit­ig auf die Sehnsucht der Menschen nach Spirituali­tät und Begegnung müsse auch die Kirchengem­einde St. Martin reagieren. „Wir wollen uns den neuen Herausford­erungen stellen“, so Janz. Dazu passend bot Kirchenmus­ikdirektor Franz Günthner eine mitreißend­e Orgelimpro­visation zum bekannten St.Martins-Lied: Das Spiel der Gedanken hat begonnen.

„Menschen machen ein Gebäude zu dem, was es ausmacht.“

Ursula Kristen

Die Ausstellun­g „Kirche Raum Gegenwart“ist bis 25. Juni ganztägig im hinteren Teil der Kirche St. Martin zu besichtige­n.

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FOTO: CHRISTOPH DORSCH In einer virtuellen Animation nehmen die Künstler Ursula und Tom Kristen die Betrachter mit auf eine Reise in einen leeren Kirchenrau­m, der den neuen Anforderun­gen entspreche­nd wieder gefüllt werden soll.

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