Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
Langes Warten auf Hilfe für die Seele
Psychiatrische Kliniken fürchten Abbau von ohnehin knappen Plätzen
- Zu wenige Plätze, zu lange Wartezeiten: Für die Aufnahme in eine psychiatrische Klinik brauchen Patienten schon jetzt viel Geduld, oft vergehen Monate. Bald könnte es noch länger dauern, befürchten Kliniken und Fachverbände.
Der Grund: die Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL). Sie setzt für psychiatrische und psychosomatische Kliniken Personaluntergrenzen fest, die sie nicht unterschreiten dürfen. Die Richtlinie hatte der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) bereits 2020 eingeführt. Dem GBA gehören Vertreter der Krankenkassen, der Ärzteschaft und unparteiische Mitglieder an. Was sich ab 2024 an der Richtlinie ändern soll: Kliniken sollen Sanktionen zahlen, wenn sie die Vorgaben nicht erfüllen. Die Strafzahlungen waren aufgrund der Belastungen durch die Corona-Pandemie bislang ausgesetzt.
Mit der Richtlinie will der GBA eine gute Patientenversorgung sicherstellen. Kliniken und Fachverbände üben Kritik. Das Bündnis „Plattform Entgelt“wehrt sich mit einem Positionspapier gegen die Richtlinie. Was sie bemängelt: Die Untergrenze sei willkürlich bemessen, die Sanktionen unverhältnismäßig und die Folgen für Kliniken und Patienten gravierend.
Nach Berechnungen des Bündnisses wären nach aktuellem Stand bundesweit „nahezu alle Kliniken“von den Sanktionen betroffen. Wie hoch die Strafzahlungen ausfallen könnten, rechnet die Plattform Entgelt vor: Unterschreitet eine Klinik der Erwachsenentherapie mit 500 Betten die Personaluntergrenze in einem Quartal um sechs Vollzeitkraftstellen (1,2 Prozent), müsse sie eine Strafe von etwa 430.000 Euro zahlen. Das Bündnis befürchtet eine Abwärtsspirale: Um Sanktionen zu vermeiden, könnten gefährdete Kliniken Betten abbauen oder ganze Stationen schließen. „Statt die Personalproblematik zu lösen und einen Beitrag zur Qualitätssicherung zu leisten, wird die PPP-RL zu einer Verschlechterung der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen führen“, schreibt die Plattform Entgelt und fordert, dass die Sanktionen gestrichen werden.
Gerhard Längle, zweiter stellvertretender Geschäftsführer des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg (ZfP), bewertet die Richtlinie so: „Die Grundidee einer solchen Richtlinie ist richtig, doch für den tatsächlichen Bedarf ist sie fachlich unzureichend und schlecht bemessen.“Der Personalbedarf für eine sachgerechte Behandlung liege etwa 15 Prozent über der vorgesehenen Untergrenze. Was ihn an der Richtlinie am meisten störe: Die Kliniken müssten einen enormen bürokratischen Aufwand betreiben, um die Kontrollen jedes Quartal nachzuweisen. Dadurch gingen wertvolle Stunden für die Patientenversorgung verloren. Zwar erfülle das ZfP aktuell die Vorgaben, die Richtlinie gebe jedoch ein Ideal vor, das für viele andere Kliniken fernab der Realität liege. „Wenn dann selbst kleinere Engpässe bewirken können, dass die Versorgung eingestellt wird, muss man sagen: Das ist grotesk“, sagt Längle.
Für Renate Schepker, ärztliche Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie im ZfP in Weißenau, ist das für die Patienten eine reelle Gefahr, sollten die Sanktionen wie geplant durchgesetzt werden. „Es könnte zu immer mehr ,blutigen Entlassungen’ kommen“, sagt sie. Bedeutet: Bei Notfällen,
welche die Krankenhäuser immer aufnehmen müssen, könnten dafür andere Patienten entlassen werden – obwohl ihre Behandlung noch nicht abgeschlossen ist. Zusätzlich könnte sich die Wartezeit für die stationäre Aufnahme verlängern, obwohl diese bereits heute teilweise bei drei bis vier Monaten liege.
Sollte das eintreten, wäre das „eine Katastrophe für die Patienten“, sagt Dietrich Munz, Präsident der Landespsychotherapeutenkammer in Baden-Württemberg. „Wird ein kranker Patient länger nicht behandelt, verschlechtert sich sein Zustand weiter und chronifiziert sich zunehmend. Das ist analog zur Organmedizin zu sehen“, erklärt er. Die ambulante Versorgung könne keine Entlastung bieten. Und zwar nicht allein, weil niedergelassene Psychiater bereits „massiv ausgelastet“seien. „Wenn für einen Patienten ein stationärer Aufenthalt angeordnet wird, wurde bereits festgestellt, dass er so schwer krank ist, dass für ihn die ambulante Versorgung allein nicht mehr reicht. Er bräuchte dann die intensivere Behandlung auf der Station“, sagt Munz. Eine stationäre Behandlung mit einer nicht ganz optimalen Personallage sei für einen schwer kranken Patienten immer noch besser, als
alle vier bis sechs Wochen mit seinem Psychiater in Kontakt zu sein.
Angesichts der umfassenden Kritik an der Richtlinie herrschen unter den Medizinern Zweifel, ob die Sanktionen in ihrer geplanten Form überhaupt kommen werden. „Es ist so unsinnig, dass wir hoffen, dass die Sanktionen nicht scharf gestellt werden. Es kann einfach nicht sein, dass wir aufgrund einer Richtlinie Betten schließen müssen, obwohl wir die Patienten versorgen könnten. Das ist unethisch“, sagt Gerhard Längle.
Der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) will gegen die Richtlinie vorgehen. „Da ich mit dieser Verordnung auf dem Kriegsfuß stehe und meine Haltung zum Gemeinsamen Bundesausschuss bekannt ist, werden wir diesen Unfug bekämpfen. Die Regelung wurde ohne Praxiskenntnis entschieden.“
Ähnliche Töne kommen aus Bayern. „Trotz der vorübergehenden Aussetzung von Sanktionen durch den GBA setzt sich das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege weiterhin konsequent für eine grundlegende Überarbeitung der PPP-RL ein“, sagt der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU).