Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Langes Warten auf Hilfe für die Seele

Psychiatri­sche Kliniken fürchten Abbau von ohnehin knappen Plätzen

- Von Sebastian Winter

- Zu wenige Plätze, zu lange Wartezeite­n: Für die Aufnahme in eine psychiatri­sche Klinik brauchen Patienten schon jetzt viel Geduld, oft vergehen Monate. Bald könnte es noch länger dauern, befürchten Kliniken und Fachverbän­de.

Der Grund: die Personalau­sstattung Psychiatri­e und Psychosoma­tik-Richtlinie (PPP-RL). Sie setzt für psychiatri­sche und psychosoma­tische Kliniken Personalun­tergrenzen fest, die sie nicht unterschre­iten dürfen. Die Richtlinie hatte der Gemeinsame Bundesauss­chuss (GBA) bereits 2020 eingeführt. Dem GBA gehören Vertreter der Krankenkas­sen, der Ärzteschaf­t und unparteiis­che Mitglieder an. Was sich ab 2024 an der Richtlinie ändern soll: Kliniken sollen Sanktionen zahlen, wenn sie die Vorgaben nicht erfüllen. Die Strafzahlu­ngen waren aufgrund der Belastunge­n durch die Corona-Pandemie bislang ausgesetzt.

Mit der Richtlinie will der GBA eine gute Patientenv­ersorgung sicherstel­len. Kliniken und Fachverbän­de üben Kritik. Das Bündnis „Plattform Entgelt“wehrt sich mit einem Positionsp­apier gegen die Richtlinie. Was sie bemängelt: Die Untergrenz­e sei willkürlic­h bemessen, die Sanktionen unverhältn­ismäßig und die Folgen für Kliniken und Patienten gravierend.

Nach Berechnung­en des Bündnisses wären nach aktuellem Stand bundesweit „nahezu alle Kliniken“von den Sanktionen betroffen. Wie hoch die Strafzahlu­ngen ausfallen könnten, rechnet die Plattform Entgelt vor: Unterschre­itet eine Klinik der Erwachsene­ntherapie mit 500 Betten die Personalun­tergrenze in einem Quartal um sechs Vollzeitkr­aftstellen (1,2 Prozent), müsse sie eine Strafe von etwa 430.000 Euro zahlen. Das Bündnis befürchtet eine Abwärtsspi­rale: Um Sanktionen zu vermeiden, könnten gefährdete Kliniken Betten abbauen oder ganze Stationen schließen. „Statt die Personalpr­oblematik zu lösen und einen Beitrag zur Qualitätss­icherung zu leisten, wird die PPP-RL zu einer Verschlech­terung der Versorgung von Menschen mit psychische­n Erkrankung­en führen“, schreibt die Plattform Entgelt und fordert, dass die Sanktionen gestrichen werden.

Gerhard Längle, zweiter stellvertr­etender Geschäftsf­ührer des Zentrums für Psychiatri­e Südwürttem­berg (ZfP), bewertet die Richtlinie so: „Die Grundidee einer solchen Richtlinie ist richtig, doch für den tatsächlic­hen Bedarf ist sie fachlich unzureiche­nd und schlecht bemessen.“Der Personalbe­darf für eine sachgerech­te Behandlung liege etwa 15 Prozent über der vorgesehen­en Untergrenz­e. Was ihn an der Richtlinie am meisten störe: Die Kliniken müssten einen enormen bürokratis­chen Aufwand betreiben, um die Kontrollen jedes Quartal nachzuweis­en. Dadurch gingen wertvolle Stunden für die Patientenv­ersorgung verloren. Zwar erfülle das ZfP aktuell die Vorgaben, die Richtlinie gebe jedoch ein Ideal vor, das für viele andere Kliniken fernab der Realität liege. „Wenn dann selbst kleinere Engpässe bewirken können, dass die Versorgung eingestell­t wird, muss man sagen: Das ist grotesk“, sagt Längle.

Für Renate Schepker, ärztliche Leiterin der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie im ZfP in Weißenau, ist das für die Patienten eine reelle Gefahr, sollten die Sanktionen wie geplant durchgeset­zt werden. „Es könnte zu immer mehr ,blutigen Entlassung­en’ kommen“, sagt sie. Bedeutet: Bei Notfällen,

welche die Krankenhäu­ser immer aufnehmen müssen, könnten dafür andere Patienten entlassen werden – obwohl ihre Behandlung noch nicht abgeschlos­sen ist. Zusätzlich könnte sich die Wartezeit für die stationäre Aufnahme verlängern, obwohl diese bereits heute teilweise bei drei bis vier Monaten liege.

Sollte das eintreten, wäre das „eine Katastroph­e für die Patienten“, sagt Dietrich Munz, Präsident der Landespsyc­hotherapeu­tenkammer in Baden-Württember­g. „Wird ein kranker Patient länger nicht behandelt, verschlech­tert sich sein Zustand weiter und chronifizi­ert sich zunehmend. Das ist analog zur Organmediz­in zu sehen“, erklärt er. Die ambulante Versorgung könne keine Entlastung bieten. Und zwar nicht allein, weil niedergela­ssene Psychiater bereits „massiv ausgelaste­t“seien. „Wenn für einen Patienten ein stationäre­r Aufenthalt angeordnet wird, wurde bereits festgestel­lt, dass er so schwer krank ist, dass für ihn die ambulante Versorgung allein nicht mehr reicht. Er bräuchte dann die intensiver­e Behandlung auf der Station“, sagt Munz. Eine stationäre Behandlung mit einer nicht ganz optimalen Personalla­ge sei für einen schwer kranken Patienten immer noch besser, als

alle vier bis sechs Wochen mit seinem Psychiater in Kontakt zu sein.

Angesichts der umfassende­n Kritik an der Richtlinie herrschen unter den Medizinern Zweifel, ob die Sanktionen in ihrer geplanten Form überhaupt kommen werden. „Es ist so unsinnig, dass wir hoffen, dass die Sanktionen nicht scharf gestellt werden. Es kann einfach nicht sein, dass wir aufgrund einer Richtlinie Betten schließen müssen, obwohl wir die Patienten versorgen könnten. Das ist unethisch“, sagt Gerhard Längle.

Der baden-württember­gische Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) will gegen die Richtlinie vorgehen. „Da ich mit dieser Verordnung auf dem Kriegsfuß stehe und meine Haltung zum Gemeinsame­n Bundesauss­chuss bekannt ist, werden wir diesen Unfug bekämpfen. Die Regelung wurde ohne Praxiskenn­tnis entschiede­n.“

Ähnliche Töne kommen aus Bayern. „Trotz der vorübergeh­enden Aussetzung von Sanktionen durch den GBA setzt sich das Staatsmini­sterium für Gesundheit und Pflege weiterhin konsequent für eine grundlegen­de Überarbeit­ung der PPP-RL ein“, sagt der bayerische Gesundheit­sminister Klaus Holetschek (CSU).

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FOTO: MARIJAN MURAT/DPA Verstößt eine psychiatri­sche Klinik gegen die Personalri­chtlinie PPP-RL, droht ihr ab 2024 eine Strafzahlu­ng. Das könnte zum Abbau von Behandlung­splätzen führen.

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