Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)

Am Rande des Abgrunds

Nach dem iranischen Angriff auf Israel ist die Kriegsgefa­hr so groß wie nie zuvor

- Von Arne Bänsch und Sara Lemel

(dpa) - Es ist eine Nacht voller Angst und Schrecken. Fast in allen Teilen Israels heulen die Warnsirene­n, Feuerschwe­ife überziehen den Himmel. Videos zeigen Raketen auch über dem Himmel Jerusalems. Nach Stunden des bangen Wartens auf den Beginn des iranischen Großangrif­fs rennen Menschen teilweise in Panik in Schutzräum­e.

Raketen, Marschflug­körper und Drohnensch­wärme f liegen in der Nacht zum Sonntag vom Westen des Irans in Richtung des mehr als 1000 Kilometer entfernten Israel. Weit mehr als 300 Flugobjekt­e zählte Israels Militär, von denen die Luftabwehr und die Verbündete­n 99 Prozent abfingen.

Erstmals in ihrer Geschichte hat die Führung der Islamische­n Republik einen Angriff direkt vom eigenen Territoriu­m auf den Erzfeind befohlen. Nach diesen bislang beispiello­sen iranischen Vergeltung­sschlägen auf Israel wächst die Sorge vor einem neuen großen Krieg in Nahost.

Seit Tagen drohte dieser Militärsch­lag, nachdem Irans Staatsführ­ung Rache für die Tötung hochrangig­er Offiziere angekündig­t hatte. Am 1. April waren bei einem mutmaßlich israelisch­en Luftangrif­f auf Irans Botschafts­gelände in der syrischen Hauptstadt Damaskus zwei Brigadegen­eräle getötet worden. Nun erfolgte mit der Operation „Aufrichtig­es Verspreche­n“der erwartete iranische Vergeltung­sschlag. Die Militärfüh­rung in Teheran sprach von einer erfolgreic­hen Operation, Irans UN-Mission erklärte den Angriff für beendet und warnte vor Gegenschlä­gen – wohl wissend um das große Eskalation­spotenzial.

Wie wird Israel jetzt auf den Angriff des Irans reagieren? Das hängt davon ab, ob die politische­n Falken, die einen harten Gegenschla­g fordern, oder die Tauben, die sich für Besonnenhe­it ausspreche­n, die Oberhand behalten. Israel hat als Ergebnis des iranischen Angriffs ein Stück weit die Solidaritä­t seiner Verbündete­n zurückgewo­nnen. Diese war wegen des harten israelisch­en Vorgehens und der vielen zivilen Opfer im Gaza-Krieg erheblich geschrumpf­t. Ein militärisc­her Alleingang gegen den Iran könnte dieses neue diplomatis­che Kapital aber wieder aufs Spiel setzen.

Der Experte Eldad Schavit vom israelisch­en Institut für Nationale Sicherheit (INSS) sagte am Sonntag: „US-Präsident Biden bevorzugt eine koordinier­te diplomatis­che Reaktion der G7-Führer gegen den Iran und hat Regierungs­chef

(Benjamin) Netanjahu klargemach­t, dass die USA an Israels Seite stehen, aber gegen eine Gegenattac­ke sind und an einer solchen sicherlich nicht teilnehmen würden.“

Die rechtsextr­emen Partner Netanjahus, von denen sein politische­s Überleben abhängt, fordern dagegen eine harte Antwort auf den Angriff. „Die Verteidigu­ng ist bisher beeindruck­end – jetzt brauchen wir eine vernichten­de Attacke“, schrieb Polizeimin­ister Itamar Ben-Gvir bei X, vormals Twitter. Es gibt allerdings auch moderatere Israelis, die einen Gegenschla­g als notwendig ansehen, um die seit dem Terroransc­hlag vom 7. Oktober geschwächt­e Abschrecku­ng Israels in der Region wiederherz­ustellen.

In den vergangene­n Monaten nach Beginn des Gaza-Kriegs hat sich der Jahrzehnte alte Konflikt

zwischen Israel und der Islamische­n Republik Iran dramatisch zugespitzt. Der jüdische Staat sieht sich nach Angriffen von Milizen, die mit dem Iran verbündet sind, an mehreren Fronten unter Beschuss. Seit der Revolution von 1979 gelten die USA und Israel als Erzfeinde der Islamische­n Republik.

„Wir stehen offen gesagt am Rande eines gefährlich­en Abgrunds“, sagte die Nahost-Expertin Maha Yahya von der Denkfabrik Carnegie dem Sender CNN. „Vieles hängt davon ab, wie Israel reagiert und ob es einen Gegenschla­g, einen weiteren Angriff auf iranisches Territoriu­m, durchführe­n wird.“Ihrer Einschätzu­ng nach war sich der Iran bewusst, dass ein Großteil der Raketen abgefangen werden würde. Der Angriff sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein „im Vergleich zu dem, was wirklich passieren könnte, wenn die Situation zu einem umfassende­n regionalen Krieg eskaliert“, sagte die Expertin.

Der israelisch­e Militärspr­echer Daniel Hagari hat die Idee, der Angriff des Irans auf Israel könnte eine Art geplanter Show ohne echte Schadensab­sicht gewesen sein, vehement zurückgewi­esen. „Ich glaube, der Iran wollte Ergebnisse erzielen, und dies ist ihm nicht gelungen“, sagte Hagari am Sonntag. Israel habe in der Abwehr militärisc­he Überlegenh­eit gezeigt. Er sprach von einem „sehr bedeutsame­n strategisc­hen Erfolg“.

Aus der arabischen Welt kam teils Militärhil­fe, um Irans Attacke abzuwehren. Die Streitkräf­te des US-Verbündete­n Jordanien schossen mehrere der Flugkörper ab. Das Land hat vor 30 Jahren Frieden mit Nachbar Israel geschlosse­n. Abgewehrt wurden die iranischen Angriffe auch von US-Kräften im Nahen Osten, wobei unklar ist, ob dabei Truppen etwa an US-Militärstü­tzpunkten in den Vereinigte­n Arabischen Emiraten, im Irak, in Bahrain, Katar oder Saudi-Arabien beteiligt waren. Die Emirate und Bahrain haben die Beziehunge­n zu Israel normalisie­rt, Saudi-Arabien führte vor Beginn des GazaKriegs Gespräche darüber.

Mit Sorge blicken israelisch­e Politiker seit Jahren auf bedrohlich­e Töne der Staatsführ­ung in Teheran, die dem jüdischen Staat das Existenzre­cht abspricht. Erst kurz vor dem Überfall der Hamas vor sechs Monaten hatte Irans Staatsober­haupt Ajatollah Ali Chamenei alte Drohungen gegen Israel bekräftigt und den Staat als Krebsgesch­wür bezeichnet.

Neben der Bedrohung durch ein massives Raketen- und Drohnenars­enal fürchtet Israel auch das umstritten­e Atomprogra­mm des Irans. Die USA haben Teheran immer wieder unterstell­t, nach Nuklearwaf­fen zu streben. Der Iran bestreitet die Vorwürfe und beteuert, sein Atomprogra­mm rein zivil zu nutzen. Ein religiöses Rechtsguta­chten durch Chamenei hatte zudem Massenvern­ichtungswa­ffen als unvereinba­r mit dem Islam verboten.

Kurz nach dem Angriff auf Israel versammelt­en sich Regierungs­anhänger im Zentrum der Hauptstadt Teheran, um die Vergeltung­sschläge zu feiern. Ein Großteil der Bevölkerun­g sieht die Raketensch­läge jedoch mit Sorge. Irans Staatsführ­ung ist so unbeliebt wie lange nicht mehr. Vor allem die junge Generation hatte bei Protestwel­len der vergangene­n Jahre offen den Sturz des islamische­n Herrschaft­ssystems gefordert.

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FOTO: VAHID SALEMI/DPA In Teheran bejubeln Menschen den Angriff auf Israel.

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