Schwäbische Zeitung (Leutkirch / Isny / Bad Wurzach)
„Diplomatie eignet sich oft nicht für Bekenntnisse in Talkshows“
Rolf Mützenich, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Bundestag, erklärt, wie er seine Aussage von einem „Einfrieren“des Krieges in der Ukraine verstanden haben will
- Mit diesen Reaktionen hatte der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich nicht gerechnet, nachdem er in einer Rede im Bundestag über ein „Einfrieren“des Krieges in der Ukraine gesprochen hatte. Auch aus der AmpelKoalition heraus wurde er massiv kritisiert. Im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“erklärt der SPD-Politiker, warum es ihm wichtig ist, auch über diplomatische Wege zur Beendigung des Krieges nachzudenken. Mützenich war auf Initiative des SPDAbgeordneten Martin Gerster in Biberach zu Gast.
Herr Mützenich, Sie sind massiv in die Kritik geraten, nachdem Sie im Bundestag gesagt hatten, man müsse darüber nachdenken, den Krieg in der Ukraine „einzufrieren“. Fühlen Sie sich im Nachhinein bestätigt, wenn Sie an die im Juni geplante Friedenskonferenz in der Schweiz denken?
Mir geht es darum, neben den seit zwei Jahren anhaltenden und manchmal auch sehr überhitzten Diskussionen über einzelne Waffensysteme einem weiteren wichtigen Aspekt Geltung zu verschaffen, nämlich dem der Diplomatie. Einerseits unterstützen wir die Ukraine in ihrem Selbstverteidigungsrecht und in ihrem Überlebenskampf mit umfangreichen Mitteln. Gleichwohl wird der Krieg wahrscheinlich nicht auf dem Schlachtfeld entschieden. Deshalb bleibt es richtig und wichtig, dass andererseits die Außenund Sicherheitspolitik alle Instrumente und Wege bespricht und auch nutzt, die dabei helfen könnten, dieses mörderische Schlachten zu beenden. In anderen Ländern wird diese Debatte längst geführt. Mit Blick auf die Konferenz in der Schweiz hoffe ich, dass es unter Beteiligung von Akteuren, die noch Einfluss auf Russland haben, gelingt, neue Möglichkeiten zu erörtern und voranzubringen.
Bundeskanzler Olaf Scholz ist derzeit in China zu Besuch. Bei einer früheren Reise im November 2022 hat er in Peking Einfluss darauf genommen, dass der russische Präsident Putin keine taktischen Atomwaffen im Ukraine-Krieg einsetzt. Was steht dieses Mal auf seiner Agenda?
In der Tat war es damals ein wichtiger, vielleicht sogar historischer Besuch, da er mit dazu beigetragen hat, dass keine Massenvernichtungswaffen im UkraineKrieg eingesetzt werden. Ich weiß, dass der Bundeskanzler wiederum viele Themen ansprechen und auch unserer Hoffnung Ausdruck verleihen wird, dass sich China stärker als in der Vergangenheit aktiv daran beteiligt, eine friedliche internationale Ordnung zu schaffen.
Woher nehmen Sie die Hoffnung, dass China Interesse hat, eine Friedenslösung voranzutreiben? Das Land profitiert doch wirtschaftlich vom Krieg in der Ukraine.
Der Krieg ist eine enorme Belastung für die Weltwirtschaft. Davon ist auch Peking betroffen. Hinzu kommen ernst zu nehmende wirtschaftliche Probleme in China selbst – wie die Immobilienkrise und eine offensichtlich hohe Jugendarbeitslosigkeit. Konflikte in Zentralasien und in Europa könnten sich in dieser Hinsicht kontraproduktiv auswirken. Vielleicht ist es für China deshalb auch aus nationalen und wirtschaftlichen Interessen an der Zeit, stärker auf Russland einzuwirken und die eigenen langfristigen Interessen in dieser Region zu bedenken. Wir müssen alles dafür tun, um auch die Regierung in Peking davon zu überzeugen, zu einem Ende des Krieges beizutragen, zumindest dabei zu helfen, die Eskalationsrisiken weiter einzugrenzen.
Wie stellen Sie sich solche Verhandlungen vor? Wer sollte mit wem am Tisch sitzen?
Für den Fall, dass sich ein Fenster zu Gesprächen öffnet – was ich zurzeit nicht sehe –, muss man vorbereitet sein. Gelegenheiten muss man erarbeiten und nicht darauf warten. Unter Vermittlung anderer Länder und der Vereinten Na
tionen sollte der Versuch gemacht werden, hinter verschlossenen Türen an jene Gespräche zu Beginn des Krieges mit Vertretern der ukrainischen und der russischen Regierung anzuknüpfen, um über Waffenruhen, humanitäre Hilfen und weitere Gefangenenaustausche zu weitreichenderen Schritten zu kommen. Ich bin niemand, der euphorisch über diese Frage spricht, weil ich weiß, dass der russische Präsident Wladimir Putin zurzeit alles auf die militärische Karte setzt. Es darf niemals dazu kommen, dass es einen „Diktatfrieden“durch Putin gibt. Deswegen unterstützen wir die Ukraine ja auch weiterhin so massiv militärisch. Angesichts der bevorstehenden US-Wahl müssen wir allerdings auch bedenken: Nicht viel besser für die Ukraine wäre ein Arrangement, das ein möglicher USPräsident Trump diktieren würde.
Welche Rolle kommt der Ukraine dabei zu?
Die entscheidende. Natürlich steht das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine an erster Stelle. Ohne die Koalitionsfraktionen wären in den vergangenen zwei Jahren nicht 28 Milliarden Euro als direkte Hilfe für die Ukraine verausgabt worden. Andere Länder ergreifen zwar stärker das Wort als
wir, tun aber weniger. Deshalb war ich irritiert, welche Reaktionen ein Halbsatz von mir, der in eine Frage eingebettet war, heraufbeschworen hat. Manche hatten offenbar ein Interesse daran, meine Rede bewusst misszuverstehen und zu instrumentalisieren. Immerhin: Es gibt viele Menschen, die froh darüber sind, dass von einer demokratischen Partei auch diese Facette aufgemacht worden ist. Das zeigen die Leserbriefe, Reaktionen, von denen mir Abgeordnete berichtet haben und die ich persönlich erhalten habe.
Auch Sahra Wagenknecht, Vorsitzende der Partei BSW, fordert mehr Diplomatie und weniger Waffenlieferungen an die Ukraine. Ebenso die AfD, die einen Waffenstillstand gefordert hat. Was unterscheidet Sie von deren Positionen?
Erstens: Ich fordere nicht weniger oder gar keine Waffenlieferungen an die Ukraine – ganz im Gegenteil. Ich wehre mich dagegen, dass sich die Debatte ausschließlich auf Waffenlieferungen fokussiert. Zweitens unterscheide ich mich in der Ernsthaftigkeit. Die Partei von Sahra Wagenknecht und die AfD argumentieren allein deshalb so, weil sie wissen, dass sie keinen Einfluss haben und keine Verantwortung tragen. Mein Appell ist ernst
gemeint, ich stehe damit auch hinter dem Bundeskanzler, der die Ukraine unterstützt und gleichzeitig Partner in der Welt sucht, die teilweise einen anderen Blick auf diesen Krieg haben. Wir müssen Akteure wie China, Brasilien, Indonesien, Südafrika und die Türkei immer wieder ermutigen zu helfen, die Ukraine und damit ganz Europa und die Welt von der Geißel dieses Krieges zu befreien.
Welche Rückmeldungen haben Sie aus der Ukraine auf Ihre Bundestagsrede bekommen? Wurde sie Ihnen übel genommen?
Nein. Ich habe aber auch keinen Zweifel daran gelassen, dass ich es natürlich respektiere und unterstütze, dass die Ukraine ihre territoriale Integrität wiederherstellen will und dafür mehr Waffen sowie mehr wirtschaftliche und finanzielle Hilfe einfordert. Trotzdem muss es möglich sein, auch auf andere Wege hinzuweisen. Das hat auch der ukrainische Botschafter in einem Gespräch akzeptiert. Eine kluge Diplomatie ist nicht Schwarz oder Weiß. Diplomatie findet immer in den Grauzonen statt und eignet sich oft nicht für Bekenntnisse in Talkshows.
Herr Mützenich, der Krieg in der Ukraine ist noch im vollen Gang, gleichzeitig weitet sich der Konflikt im Nahen Osten aus. Iran hat erstmals Israel mit Raketen und Drohnen angegriffen. Wie besorgt sind Sie? Wird es einen Flächenbrand geben?
Ich verurteile den iranischen Angriff auf Israel aufs Schärfste. Israel muss sich verteidigen und wird sich wehren, wahrscheinlich auch Ziele im Iran angreifen. Erst danach können wir beurteilen, ob eine weitere Eskalation noch abzuwenden ist. Ich hoffe auf die Einsicht aller Beteiligten, dass sie auch die Folgen einer fortgesetzten, grenzenlosen militärischen Auseinandersetzung bedenken. Aber ich mache mir sehr große Sorgen.
Welche Reaktionen erwarten Sie von den Verbündeten Israels?
Offensichtlich konnte die Abwehr des iranischen Angriffs auf Israel mithilfe mehrerer Länder größtenteils gelingen, darunter natürlich der USA. Die Biden-Regierung wird in den kommenden Stunden der wichtigste internationale Verbündete sein, um die Geschehnisse nicht sich selbst zu überlassen.
Wie kann es Ihrer Partei gelingen, in der Ukraine-Frage Kurs zu halten, ohne bei den Landtagswahlen im Osten in die Bedeutungslosigkeit abzustürzen?
Die SPD muss sich in den Ländern, wo sie entweder als Teil der Landesregierung oder in den Parlamenten ihre Aufgabe erfüllen, für ihre Arbeit nicht verstecken. Ich bin zuversichtlich, dass am Ende diese Bilanz dazu beitragen wird, dass die SPD ihr Potenzial nutzen kann. Wir mühen uns alle in der Koalition, zu einem besseren Arbeiten zu kommen, damit auch mehr Rückenwind aus Berlin kommt.
Darum bemühen Sie sich aber schon reichlich lange.
Das stimmt. In einer Koalition müsste es tatsächlich möglich sein, zu Kompromissen zu stehen, selbst wenn sie schmerzhaft sind. Es ärgert mich, wenn die Beteiligten am Ende so tun, als hätten sie mehr rausgeholt als die anderen Partner, oder die Kompromisse schlechtreden. Das ist kein professionelles Verhalten und schadet der Koalition, sowohl im Innenverhältnis als auch in der Außenwahrnehmung. Am Ende können wir als Koalitionspartner nur gemeinsam erfolgreich sein.
Was sagt Ihnen das als SPD-Fraktionschef in einer Ampel-Koalition? Nie wieder ein Dreier-Bündnis?
Zum einen entscheide das nicht ich, sondern der Souverän, die Wählerinnen und Wähler. Zum anderen hatten wir bereits in der vergangenen Legislaturperiode ein Dreierbündnis. Auch da hatte ich es als Fraktionsvorsitzender der SPD mit zwei Partnern in der Unionsfraktion zu tun bekommen – und das war manchmal auch nicht leichter.