Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Wahrheit hilft nicht immer weiter
Antonio Vivaldis Oper „La verità in cimento“am Opernhaus Zürich
ZÜRICH - Mit überwältigendem Erfolg hat es jetzt erstmals ein Musikdrama von Antonio Vivaldi auf die Bühne des Opernhauses Zürich geschafft. Zu Lebzeiten galt der venezianische Barockkomponist europaweit als Star seiner Zunft. Nach seinem Tod fiel er jedoch in Vergessenheit. Erst im frühen 20. Jahrhundert regte sich verstärktes Interesse an einer Wiederbelebung seiner Musik. Mittlerweile gehört Vivaldi längst zu den beliebtesten Tonsetzern des Klassikbetriebs. Dies gilt freilich nur für seine Instrumentalwerke.
Als Opernkomponist wird Vivaldi erst in jüngster Zeit wieder entdeckt. Einige seiner fast hundert Musikdramen sind für CD-Einspielungen oder szenische Produktionen hier und da ausgegraben worden. In Zürich hat man sich für „La verità in cimento“(„Die Wahrheit auf dem Prüfstand“) entschieden. Das dreiaktige Stück wurde 1720 in Venedig aus der Taufe gehoben. Das Libretto von Giovanni Palazzi bietet eine zunächst recht konstruiert wirkende Handlung, die aber im Verbund mit Vivaldis subtiler Musik dramaturgische Komplexität entfaltet.
Einfach kompliziert Im Originaltext spielt die Oper in einem orientalischen Serail. Der reiche Sultan Mamud hat seine beiden gleichalten Söhne Zelim und Melindo nach der Geburt der jeweils falschen Mutter untergeschoben. Melindo ist deshalb bei Mamuds Ehefrau Rustena, Zelim bei seiner Nebenfrau Damira aufgewachsen. Darauf hatte Damira einst als Ausgleich für ihren Verzicht auf die Ehe und als Lohn für ihre Liebesdienste bestanden. Ihr Melindo soll offizieller Erbe und Thronfolger werden. Rustena und die Söhne wissen nichts von dieser Abmachung.
Das Stück beginnt mit Vorbereitungen zur Hochzeit von Melindo und Rosana, die ihren Freund Zelim für eine bessere Partie verlassen hat. Mamud bekommt nun Gewissensbisse und will seine familiäre Lebenslüge aufdecken. Doch nicht nur Damira stellt sich diesem Plan vehement entgegen. Auch die Söhne und Rustena sind von der ungefragt über sie hereinbrechenden Abstammungswahrheit überfordert. Die Familie droht in ein Chaos zu stürzen. Erst das wundersame, zur Barockzeit obligatorische Happy End löst die Konflikte.
In Zürich hat Jan Philipp Gloger (Regie) die Geschichte in unsere Zeit verlegt. Mamud (Richard Croft mit solidem Tenor) ist ein Unternehmer im besten Alter. Die Räume seiner modernen Stadtvilla hat Ben Baur (Bühne) realistisch nachgebildet. Im Arbeitszimmer gibt es edle Marmorwände, im Schlafzimmer ein Doppelbett und einen Waschtisch. Vom Esszimmer mit Holzvertäfelung und Familienfotos führt eine breite Tür hinten auf eine Terrasse. In der Garage steht ein teurer Porsche. Mamuds Ex-Geliebte Damira (Delphine Ga- lou) ist in diesem Haushalt als Dienstmädchen angestellt.
Glogers Inszenierung beginnt mit einer Familienidylle. Man stößt mit Champagner auf die bevorstehende Hochzeit an. Melindo (Countertenor Christophe Dumeaux mit bravourösen Koloraturen) ist ein sportlicher, selbstbewusster Juniorchef in spe, Rosana (brillant gesungen von Julie Fuchs) eine hübsche Verlobte, die es gar nicht erwarten kann, von Rustena (Wiebke Lehmkuhl) das kostbare Brautkleid gezeigt zu bekommen (Kostüme: Karin Jud). Nur Zelim im düsteren Emo-Look (sensationell: Anna Gorchakova) schaut unglücklich von der Terrasse herein und ritzt sich mit einem Messer am Unterarm.
Mamuds Entschluss, seine Lüge rückgängig zu machen, stürzt dann alle nach und nach in eine Krise von Ibsen’schen Dimensionen. Die Folgen verspäteter Wahrheitsliebe bringen das soziale und psychische Gleichgewicht der ganzen Familie durcheinander. Selbst die Alternativen von „richtiger“und „falscher“ Abstammung werden infrage gestellt. Plausibel legt Gloger die Verwerfungen und Abgründe frei, die Vivaldis scharfe Charakterzeichnungen vorgeben. Emotionale Kontraste der Musik werden auch in stummen Nebenhandlungen bis in kleine Details entfaltet.
Der Barockspezialist Ottavio Dantone animiert das „historisch“musizierende Orchestra La Scintilla zu vitalem, ausdrucksvollem, dynamisch fein abgestuftem Spiel. Kürzungen von Rezitativen und Umstellungen einzelner Arien erweisen sich im Verbund mit Glogers durchdachter Aktualisierung des Stoffs ebenso schlüssig wie der Verzicht auf den kurzen Happy-End-Schlusschor, der nach dieser Tragödie nur angeklebt wirken würde. Weitere Vorstellungen am 27., 29. und 31. Mai sowie am 3., 7., 10., 13. und 16. Juni. Kartentelefeon 0041 44 268 66 66. www.opernhaus.ch