Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Die Tür zurück ins Leben
Der Württemberger Hof in Ravensburg hilft Menschen in Not, vor allem bei der Arbeits- und Wohnungssuche
RAVENSBURG - Um zehn Uhr morgens kommt der Bäcker. Er bringt ein Tablett mit Croissants, Puddingplunder und Schweineohren. Eddi Heit (58) steht hinter der Theke, dirigiert den dunkelhäutigen Lieferanten der Bäckerei Honold in die Küche und packt die süßen Stückchen in kleine Tüten. Zehn Stück insgesamt. „Die sind für die Werkstatt“, sagt er und marschiert los. Sein Gang ist stark beeinträchtigt, und manchmal wollen die Worte nicht flüssig über seine Lippen kommen.
Heit ist die gute Seele in der Tagestätte des Württemberger Hofs in Ravensburg. Er kennt hier jeden, der einen Kaffee für 50 Cent bestellt, die Zeitung lesen möchte, zum Mittagessen kommt, Wäsche waschen oder duschen will. Die süßen Stückchen der Bäckerei Honold sind eine Spende, genauso wie das Obst und Gemü-
Sozialarbeiterin Gabriele Weiß
se von Alnatura oder Lidl, das die Mitarbeiter täglich abholen. Ein schwerer Autounfall hat ihm beide Beine gebrochen. 20 Jahre lang lebt er auf der Straße. 2008 verschlägt es ihn nach Ravensburg. Er kommt in den Württemberger Hof.
Das „Penner“-Hotel oder die „Endstation“wird das Haus in der Eisenbahnstraße 53 in Ravensburg häufig genannt. Doch das ist ein Vorurteil, dessen Nährboden meist die Angst vor dem eigenen Absturz ist. „Unsere Aufgabe ist es, Menschen, deren Leben in einer Schieflage ist, auf die Beine zu helfen“, sagt Gabriele Weiß, Diplom-Sozialarbeiterin und Abteilungsleiterin des Württemberger Hofs. „Wir sind eine Anlaufstelle für Einzelpersonen, die keinen festen Wohnsitz haben.“
Dieser ist die Voraussetzung für den Bezug von Hartz IV. Fehlt dieser, erfolgt die Leistungszahlung bar über die Fachberatungs- und Auszahlstelle im Württemberger Hof. Insgesamt 4784 Beratungsgespräche hat Gabriele Weiß zusammen mit ihren drei Kollegen vom Fachberatungsteam im letzten Jahr geführt. Bei 37 Personen gelang eine gezielte Vermittlung.
1981 hat der heutige Träger, der Diakonieverbund Dornahof & Erlacher Höhe, das Gebäude Eisenbahnstraße 53 erworben. Anlass für die Einrichtung einer Arbeits- und Wohnungslosenhilfe war der Tod eines Obdachlosen in Ravensburg. Er war im Dezember 1982 auf der Straße erfroren. Heute ist es ein Gebäudekomplex von drei Häusern, in denen sich neben der Fachberatungsstelle mit angegliederter Tagestätte ein Arbeits- und Beschäftigungsangebot, ein Aufnahmehaus mit drei Einzelund vier Doppelzimmern mit Küche, Teeküche und Sanitärbereich für Männer sowie ein separates Appartement mit Küche und zwei Einzelzimmer für Frauen befinden. Weitere 15 Appartements mit Küche und Bad und zwei Vierzimmer-Wohnungen stehen für das Betreute Wohnen zu Verfügung. Und für Notfälle ist fast immer ein Platz frei. Dafür steht ein Aufnahmezimmer mit drei Betten zur Verfügung.
Seine Wohnung zu verlieren, kann unter Umständen schnell gehen. 12 Jahre lebte Heinz Kohl* in Ecuador. Auf seiner Finca baute er Obst an und hielt Meerschweinchen – ein normales Nahrungsmittel in weiten Teilen Südamerikas. Dann musste er zurück nach Deutschland und pflegte seinen Vater bis zu dessen Tod. Durch Erbstreitigkeiten verlor er das Elternhaus und saß plötzlich auf der Straße. Eine schwere Lungenkrankheit machte ihn zusätzlich arbeitsunfähig. Wohin sollte er? „Vom Angebot des Württemberger Hofs erfuhr ich über ein paar Ecken“, erzählt er. „Da habe ich dann einfach mal geklingelt.“Und die Tür ging auf. Sein größtes Problem ist, eine bezahlbare Wohnung zu finden – in Ravensburg zurzeit eine fast unlösbare Aufgabe. Bis zu 450 Euro Warmmiete bezahlt zwar das Landratsamt, aber Vermieter begegnen Sozialhilfeempfänger mit großen Ressentiments.
Kampf gegen Piraten Paul Gärtner* hat mit anderen Problemen zu kämpfen. 2008 gerät der Leutnant in Somalia bei dem Versuch, gefangene Seeleute aus den Händen von Piraten zu befreien, mit seinen 40 Soldaten in einen Hinterhalt. Landminen zerfetzen die Truppe, töten einige Soldaten, viele sind schwer verletzt, darunter auch Paul Gärtner. Er bekommt haufenweise Morphium gegen die Schmerzen, liegt acht Monate im Krankenhaus. Das Morphium wird zur Sucht, er beginnt zu trinken und verliert alles. Seine Ehe geht in die Brüche, er kann seinen Alltag nicht mehr bewältigen. Die Bilder der toten Kameraden verlassen ihn nicht mehr. Posttraumatische Belastungsstörung lautet die Diagnose. Er sucht sich Hilfe, macht eine Entziehungskur und begibt sich in die Obhut eines Psychiaters. Das Wichtigste für ihn ist, wieder arbeiten zu können. Er war zwei Jahre in der stationären Hilfe am Dornahof in Altshausen. Seit einem Jahr lebt er jetzt im Betreuten Wohnen und kämpft für seine Rückkehr in ein normales Leben. Dazu braucht er einen Job, eine Fortbildung und eine Wohnung.
12 Uhr. Das Mittagessen wird angeliefert. Für 2,40 Euro bekommt man in der Tagesstätte auf Vorbestellung eine warme Mahlzeit. Das Angebot gilt nicht nur für die Bewohner des Württemberger Hofs, sondern für alle, die wollen. Heute gibt es Kartoffelsalat mit paniertem Putenschnitzel, Salat und eine Quarknachspeise. Eddi schnappt sich eine Essensbox und geht in den ersten Stock des Gebäudes für Betreutes Wohnen. „Dein Essen ist da“, ruft er, während er an der Tür klopft. Gerd ist 85 Jahre und lebt seit 18 Jahren in einem Appartement im Württemberger Hof. Er ist ein extremer Ausnahmefall, denn im Betreuten Wohnen sind die Miet- und Betreuungsverträge befristet.
Im Aufnahmehaus beträgt die Aufenthaltsdauer eines Bewohners im Durchschnitt gerade einmal 51 Tage. 2014 lebten dort im Durchschnitt 14,23 Personen. Im gesamten ambulanten Hilfesystem registrierte die Statistik im gleichen Jahr 125 Personen. Darunter waren 24,8 Prozent Frauen.
Der Frauen-Anteil ist im Vergleich zum Vorjahr gravierend gestiegen. Eine Tendenz, die schon in den letzten zehn Jahren zu beobachten ist, gerade bei jungen Frauen. Zerrüttete Familienverhältnisse, Missbrauch, Alkohol- und Drogensucht sind einige Gründe.
„Unsere Aufgabe ist es, Menschen, deren
Leben in einer Schieflage ist, auf die
Beine zu helfen.“ „Ich dachte, das hier ist die Endstation, jetzt bist du ganz unten
angekommen.“
Bewohnerin des Württemberger
Hofes
Wie bei Claudia Böhm*. Die 28Jährige kommt mit 14 in ein Pflegeheim, macht eine Ausbildung und findet anschließend keinen Job. Sie besetzt Häuser, lebt auf der Straße, nimmt Drogen, trinkt. Irgendwann ging es nicht mehr. Vor drei Jahren nimmt sie all ihren Mut zusammen und holt sich Hilfe im Württemberger Hof. „Ich dachte, das hier ist die Endstation, jetzt bist du ganz unten angekommen“, sagt sie.
Doch ihre schlimmsten Befürchtungen erfüllen sich nicht. Die vermeintliche Endstation erweist sich als Tür zurück ins Leben. Heute hat sie wieder eine Perspektive und einen Traum: „Eine Arbeit, eine Wohnung, ein Garten und einen Hund“, wünscht sie sich für die Zukunft.
*Namen geändert