Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Marzipan and more
Mehr als Holstentor und Buddenbrooks – Lübecks neue Attraktion ist das Europäische Hansemuseum
ie jetzt? Sind sie doch nicht fertiggeworden mit ihrem nagelneuen Museum? Das lichte Café, der gläserne Aufzug, der Blick auf ausgegrabene Mauern aus unterschiedlichen Jahrhunderten – alles picobello. Aber gerade hier, in der angeblich ersten Station, liegt der Mörtel noch angerührt in den Wannen, Zimmermannsäxte, Bauholz und Schaufeln stehen achtlos herum. Die hohe Backsteinmauer zur Linken haben sie immerhin noch fertig gebaut. Aber keine Sorge: Es hat alles seine Richtigkeit. Diese Baustelle befindet sich im Jahre 1226. Und sie besagt vor allem eines: Fortschritt! Denn in den Jahrzehnten davor ist Lübeck durch den Fernhandel und die Hanse reich geworden. So reich, dass es sich leisten kann, die alten, feuergefährdeten Holzhäuser durch gemauerte, neue zu ersetzen – der Beginn der heute noch viel bewunderten Backsteingotik im gesamten Ostseeraum.
Die Szene aus Lübecks frühen Tagen ist einer der acht historischen Schwerpunkte des neuen Europäischen Hansemuseums. Diese Woche wurde es nach dreieinhalbjähriger Ausgrabungs- und Bauzeit eröffnet, auch Kanzlerin Angela Merkel war zu Gast. Statt der ursprünglich veranschlagten 27 kostete es am Ende zwar fast 50 Millionen Mark. Aber nirgendwo sonst auf der Welt ist die Geschichte dieses Städtebundes, der von Mitte des 12. bis Ende des 17. Jahrhunderts das bedeutendste wirtschaftliche Netzwerk im nördlichen Europa bildete, so gründlich und anschaulich dargestellt.
Drehscheibe des Handels Und tatsächlich gibt es auch keinen Ort, der passender dafür wäre als Lübeck. Die Stadt zwischen Trave und Wakenitz war schon bald nach ihrer Gründung 1143 eine Drehscheibe des Handels zwischen Westen, Norden und Osten und galt als die Königin der Hanse. Viele ihrer bedeutenden Bauten demonstrieren das Wir-sind- wer-Gefühl der Kaufleute: Die gotische Marienkirche mit ihren mächtigen Türmen und dem Wald aus Strebepfeilern, das wuchtige und ein wenig schiefe Holstentor, vor allem aber das Rathaus, ein Ensemble höchst unterschiedlicher Gebäude aus mehreren Jahrhunderte mit grünlasierten Ziegeln und vielen Windlöchern, Wappen und Türmchen.
Tätig waren die Lübecker vor allem auf der Ostsee. Entsprechend wichtig waren Kapitäne. Sie schufen sich mit der Schiffergesellschaft 1535 ein ihrer Bedeutung angemessenes Versammlungshaus. Noch immer hängen hier historische Schiffsmodelle und schwere Leuchter von der Decke und auf den alten Eichenplanken sitzen die Gäste dicht an dicht und genießen die zeitgemäße Varianten von Labskaus und gebratener Scholle.
Thomas Manns „Buddenbrooks“Bootsleute, Heringspacker, Salzwälzer und Kornmesser dagegen wohnten in den „Gängen“, langen Reihen ein- oder zweigeschossiger Buden, die die Kaufleute in den Höfen hinter ihren Häusern errichten ließen. Viele dieser Wohnanlagen sind noch erhalten und gerade im Sommer treffen sich die Bewohner abends auf ihren Bänken gern auf ein Glas Wein.
Aber Lübeck zehrt nicht nur von der lange zurückliegenden Vergangenheit. Thomas Mann hat mit seinen „Buddenbrooks“dem Glanz und Niedergang der Kaufleute ein nobelpreisgekröntes Denkmal gesetzt. Im Buddenbrookhaus sind Szenen des Romans nachgestellt. Ein paar Straßen weiter zeigt das Günter-GrassHaus Skulpturen und Gedichte des Künstlers. Und auch dem Dritten im Nobel-Bund ist eine Ausstellung gewidmet: Im Willy Brandt Haus kann der Besucher die Lebensstationen des charismatischen Politikers nachempfinden.
Und nun also das Hansemuseum. Der Arm der Genossenschaft reichte von Flandern bis Russland, von Köln bis ins heutige Stockholm. Ihre vier Auslandskontore bilden die Pfeiler der Ausstellung. In der „Oude Halle“, der Verkaufshalle von Brügge, stapeln sich farbenprächtige Webereien, edle Pelze und nagelneue Rüstungen – Handelsware vom Feinsten. In der Niederlassung in London laufen überlebensgroß die Porträts bekannter Kaufleute über die Wand, die Hans Holbein der Jüngere gemalt hat. Gegenüber dieser Installation zeigt eine Grafik, wie bedeutend die Entwicklung der Gewinne im englischen Wollhandel war. Und in der „Tyske Bryggen“in Bergen liegt der Stockfisch dicht gestapelt in den Regalen.
Kein Hanse-Disneyland Man kann hineinschnuppern in die Geschichte der Hanse und das Gesehene an Hörstationen und Computerterminals gründlich vertiefen. Modernsten museumstechnischen Schnickschnack sucht man aber vergebens. Das Museum ist kein HanseDisneyland geworden, überall spürt man das Bemühen um Ernsthaftigkeit: Jede Szene soll wissenschaftlicher Betrachtung standhalten können.
Im Museumsshop schließlich gibt es Geldkatzen aus Leder, Bücher über die Hanse und natürlich auch jenes süße Etwas, das die Stadt wahrscheinlich viel bekannter gemacht hat als alle alten Mauern und bedeutenden Köpfe: Ganz ohne Marzipan fährt niemand aus Lübeck nach Hause.
Europäisches Hansemuseum, An der Untertrave 1, 23552 Lübeck, Tel.: 0451 8090 990, info@hansemuseum.eu, www.hansemuseum.eu Geöffnet täglich von 10 bis 17 Uhr, Eintritt: Erw.: 11,50, ermäßigt 10 Euro, Kinder 6,50. Allgemeine Informationen: Lübeck und Travemünde Tourist Service, Holstentorplatz 1, 23552 Lübeck, Tel.: 0451 8899700, info@ luebeck- tourismus. de. www. luebeck- tourismus. de