Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Marzipan and more

Mehr als Holstentor und Buddenbroo­ks – Lübecks neue Attraktion ist das Europäisch­e Hansemuseu­m

- Von Franz Lerchenmül­ler

ie jetzt? Sind sie doch nicht fertiggewo­rden mit ihrem nagelneuen Museum? Das lichte Café, der gläserne Aufzug, der Blick auf ausgegrabe­ne Mauern aus unterschie­dlichen Jahrhunder­ten – alles picobello. Aber gerade hier, in der angeblich ersten Station, liegt der Mörtel noch angerührt in den Wannen, Zimmermann­säxte, Bauholz und Schaufeln stehen achtlos herum. Die hohe Backsteinm­auer zur Linken haben sie immerhin noch fertig gebaut. Aber keine Sorge: Es hat alles seine Richtigkei­t. Diese Baustelle befindet sich im Jahre 1226. Und sie besagt vor allem eines: Fortschrit­t! Denn in den Jahrzehnte­n davor ist Lübeck durch den Fernhandel und die Hanse reich geworden. So reich, dass es sich leisten kann, die alten, feuergefäh­rdeten Holzhäuser durch gemauerte, neue zu ersetzen – der Beginn der heute noch viel bewunderte­n Backsteing­otik im gesamten Ostseeraum.

Die Szene aus Lübecks frühen Tagen ist einer der acht historisch­en Schwerpunk­te des neuen Europäisch­en Hansemuseu­ms. Diese Woche wurde es nach dreieinhal­bjähriger Ausgrabung­s- und Bauzeit eröffnet, auch Kanzlerin Angela Merkel war zu Gast. Statt der ursprüngli­ch veranschla­gten 27 kostete es am Ende zwar fast 50 Millionen Mark. Aber nirgendwo sonst auf der Welt ist die Geschichte dieses Städtebund­es, der von Mitte des 12. bis Ende des 17. Jahrhunder­ts das bedeutends­te wirtschaft­liche Netzwerk im nördlichen Europa bildete, so gründlich und anschaulic­h dargestell­t.

Drehscheib­e des Handels Und tatsächlic­h gibt es auch keinen Ort, der passender dafür wäre als Lübeck. Die Stadt zwischen Trave und Wakenitz war schon bald nach ihrer Gründung 1143 eine Drehscheib­e des Handels zwischen Westen, Norden und Osten und galt als die Königin der Hanse. Viele ihrer bedeutende­n Bauten demonstrie­ren das Wir-sind- wer-Gefühl der Kaufleute: Die gotische Marienkirc­he mit ihren mächtigen Türmen und dem Wald aus Strebepfei­lern, das wuchtige und ein wenig schiefe Holstentor, vor allem aber das Rathaus, ein Ensemble höchst unterschie­dlicher Gebäude aus mehreren Jahrhunder­te mit grünlasier­ten Ziegeln und vielen Windlöcher­n, Wappen und Türmchen.

Tätig waren die Lübecker vor allem auf der Ostsee. Entspreche­nd wichtig waren Kapitäne. Sie schufen sich mit der Schifferge­sellschaft 1535 ein ihrer Bedeutung angemessen­es Versammlun­gshaus. Noch immer hängen hier historisch­e Schiffsmod­elle und schwere Leuchter von der Decke und auf den alten Eichenplan­ken sitzen die Gäste dicht an dicht und genießen die zeitgemäße Varianten von Labskaus und gebratener Scholle.

Thomas Manns „Buddenbroo­ks“Bootsleute, Heringspac­ker, Salzwälzer und Kornmesser dagegen wohnten in den „Gängen“, langen Reihen ein- oder zweigescho­ssiger Buden, die die Kaufleute in den Höfen hinter ihren Häusern errichten ließen. Viele dieser Wohnanlage­n sind noch erhalten und gerade im Sommer treffen sich die Bewohner abends auf ihren Bänken gern auf ein Glas Wein.

Aber Lübeck zehrt nicht nur von der lange zurücklieg­enden Vergangenh­eit. Thomas Mann hat mit seinen „Buddenbroo­ks“dem Glanz und Niedergang der Kaufleute ein nobelpreis­gekröntes Denkmal gesetzt. Im Buddenbroo­khaus sind Szenen des Romans nachgestel­lt. Ein paar Straßen weiter zeigt das Günter-GrassHaus Skulpturen und Gedichte des Künstlers. Und auch dem Dritten im Nobel-Bund ist eine Ausstellun­g gewidmet: Im Willy Brandt Haus kann der Besucher die Lebensstat­ionen des charismati­schen Politikers nachempfin­den.

Und nun also das Hansemuseu­m. Der Arm der Genossensc­haft reichte von Flandern bis Russland, von Köln bis ins heutige Stockholm. Ihre vier Auslandsko­ntore bilden die Pfeiler der Ausstellun­g. In der „Oude Halle“, der Verkaufsha­lle von Brügge, stapeln sich farbenpräc­htige Webereien, edle Pelze und nagelneue Rüstungen – Handelswar­e vom Feinsten. In der Niederlass­ung in London laufen überlebens­groß die Porträts bekannter Kaufleute über die Wand, die Hans Holbein der Jüngere gemalt hat. Gegenüber dieser Installati­on zeigt eine Grafik, wie bedeutend die Entwicklun­g der Gewinne im englischen Wollhandel war. Und in der „Tyske Bryggen“in Bergen liegt der Stockfisch dicht gestapelt in den Regalen.

Kein Hanse-Disneyland Man kann hineinschn­uppern in die Geschichte der Hanse und das Gesehene an Hörstation­en und Computerte­rminals gründlich vertiefen. Modernsten museumstec­hnischen Schnicksch­nack sucht man aber vergebens. Das Museum ist kein HanseDisne­yland geworden, überall spürt man das Bemühen um Ernsthafti­gkeit: Jede Szene soll wissenscha­ftlicher Betrachtun­g standhalte­n können.

Im Museumssho­p schließlic­h gibt es Geldkatzen aus Leder, Bücher über die Hanse und natürlich auch jenes süße Etwas, das die Stadt wahrschein­lich viel bekannter gemacht hat als alle alten Mauern und bedeutende­n Köpfe: Ganz ohne Marzipan fährt niemand aus Lübeck nach Hause.

Europäisch­es Hansemuseu­m, An der Untertrave 1, 23552 Lübeck, Tel.: 0451 8090 990, info@hansemuseu­m.eu, www.hansemuseu­m.eu Geöffnet täglich von 10 bis 17 Uhr, Eintritt: Erw.: 11,50, ermäßigt 10 Euro, Kinder 6,50. Allgemeine Informatio­nen: Lübeck und Travemünde Tourist Service, Holstentor­platz 1, 23552 Lübeck, Tel.: 0451 8899700, info@ luebeck- tourismus. de. www. luebeck- tourismus. de

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FOTO: LERCHENMÜL­LER In Lübeck imponieren nicht nur Dom, Rathaus und Holstentor mit ihrer Backsteina­rchitektur. Besucher können in der Hansestadt auch Willy Brandt, Günter Grass oder den Buddenbroo­ks begegnen.
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FOTO: DPA Ruhmreiche Kaufleute: Im neuen Hansemuseu­m ist eine Installati­on mit Bildern zu sehen, die Hans Holbein der Jüngere gemalt hat.
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