Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
„Schreibtischjob“in der Hölle auf Erden
Früherer SS-Mann Oskar Gröning zu vier Jahren Haft verurteilt
LÜNEBURG (AFP) - Es ist eine Urteilsbegründung wie ein Donnerhall. „Ich will Sie nicht als feige bezeichnen, Herr Gröning. Aber Sie haben sich für den sicheren Schreibtischjob entschieden“, sagt der Vorsitzende Richter Franz Kompisch, als er den ehemaligen SS-Buchhalter von Auschwitz am Mittwoch wegen Beihilfe zum Mord in 300 000 Fällen zu vier Jahren Haft verurteilt. Es sei dem Angeklagten „lieber“gewesen, einen Beitrag zu einem unfassbaren Massenverbrechen zu leisten, als sein Leben an der Front zu riskieren.
Kompisch ist anzumerken, dass ihn das Grauen, mit dem seine Kammer am Lüneburger Landgericht in den vergangenen Monaten konfrontiert wurde, bei aller Professionalität doch aufwühlt. „Grausam, effizient und gnadenlos“hätten Männer wie Gröning ihren Beitrag zum Holocaust geleistet, sagt der Jurist – eingefügt in eine „auf die Tötung von Menschen ausgerichtete Maschinerie“.
Rund 71 Jahre ist es her, dass der heute 94-jährige Gröning in dem größten aller deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager das Geld der ermordeten Holocaust-Opfer sortierte, zählte und nach Berlin weiterleitete sowie deren Gepäck an der sogenannten Rampe bewachte. So hat es Gröning selbst berichtet.
Das damals Geschehene lässt ihn nicht kalt. Hochbetagt und gesundheitlich angeschlagen sank er während des Verfahrens immer weiter in sich zusammen. Kompisch lobt ihn dafür, dass er sich dem Prozess gestellt, nicht geleugnet und Verantwortung für sein Tun übernommen habe. Das nötige ihm durchaus einen gewissen Respekt ab, sagt der Richter.
Vier Jahre Gefängnis warten am Ende auf Gröning, sofern das Urteil rechtskräftig wird und er dann noch haftfähig sein sollte. Macht all das nach Jahrzehnten noch Sinn? Kompisch hat darauf eine klare Antwort: Es sei trotz aller Schwierigkeiten nicht zu spät, „Gerechtigkeit zu schaffen“. Die Aufar- beitung der NS-Verbrechen sei noch nicht zu Ende. „Man kann hier Urteile fällen. Man muss es auch.“
Mehr als 60 Auschwitz-Überlebende und Hinterbliebene von Holocaust-Opfern beteiligten sich als Nebenkläger an dem Lüneburger Ver- Weil Oskar Gröning eine Banklehre absolviert hatte, wurde der Freiwillige der Waffen- SS 1942 in Auschwitz dafür eingeteilt, Geld der Verschleppten zu zählen. Im September 1944 wechselte er in eine Einheit an der Front. Nach seinen Angaben geschah das erst nach dem dritten Versetzungsgesuch.
Nach dem Krieg kam Gröning zunächst in britische Gefangenschaft, dann lebte er mit Frau und Kindern ein bürgerliches Leben in der Lüneburger Heide. Erst Mitte 1985 öffnete er sich. In einer Dokumentation der britischen BBC berichtete er über das, was er in Auschwitz sah und tat. Er selbst beschrieb sich als „ Rädchen im Getriebe“. Gröning hat 2005 auch dem „ Spiegel“von seiner Zeit in Auschwitz berichtet. Das Porträt „ Der Buchhalter von Auschwitz“schildert ihn als jemanden, der nach einem anderen Wort für Schuld sucht.
Gegen den heute 94- Jährigen wurde bereits 1977 ermittelt. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt stellte das Verfahren im März 1985 aber mangels Beweisen ein. Eine Wiederaufnahme wurde später abgelehnt. ( dpa)
fahren, das einer der letzten Auschwitz-Prozesse gewesen sein dürfte. Sie wollten dabei sein, als eines der oft zitierten kleinen „Rädchen im Getriebe“des Massenmords zur Rechenschaft gezogen wurde.
Die Schilderungen der Nebenkläger gingen unter die Haut. Zu hören waren Berichte von dem über Auschwitz liegenden Gestank verbrannten Fleisches aus den Krematorien, vom Sterben während des Transports in Güterwaggons, von der unbegreiflichen Leere, die die Auslöschung ganzer Familien bei den Davongekommenen hinterließ.
Was das Urteil für die Überlebenden bedeutet, lässt sich kaum abschätzen. Das Strafmaß spiele für seine Mandanten nur eine „sehr, sehr untergeordnete Rolle“, sagt etwa Nebenklageanwalt Thomas Walther nach dem Urteil. Wichtig ist vielmehr allein der Schuldspruch an sich, das Symbol.
Schon vor der Urteilsbegründung dankt die Nebenklage dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Öffentlichkeit für den großen Respekt, den diese den Überlebenden entgegengebracht hätten. Bei den Beteiligten sei durch das Verfahren ein „neues Bild“von Deutschland entstanden, sagt Walther. Auch der Auschwitz-Überlebende Leon Schwarbach betont am Mittwoch, wie viel ihm das Urteil bedeutet: „Ich will keine Rache. Aber ich finde es gerecht, dass er verurteilt wurde.“