Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Der Staat als Ersatzfamilie
Bundeskabinett billigt Gesetz für Verbesserungen für junge Asylbewerber
BERLIN - Plötzlich tritt der Fahrer auf die Bremse. Alles muss jetzt schnell gehen. „Wo sind wir? In Deutschland?“, fragt einer der Flüchtlinge. Der Schleuser nickt und überlässt sie ihrem Schicksal – mitten auf der Autobahn 3 in Bayern. So geht es seit Monaten: Jeden Morgen greift die Polizei im Landkreis Passau rund 300 neue Flüchtlinge auf, darunter viele Kinder und Jugendliche – ohne Eltern. Bayerns Südosten ist der Endpunkt der „Balkan-Route“, auf der seit Jahresbeginn fast 15 000 Flüchtlinge hier illegal ins Dreiländereck zwischen Deutschland, Österreich und Tschechien gebracht worden sind. „Wir sind hier das Einfallstor“, sagt Thomas Lang, Chef der Bundespolizei in Südostbayern.
Passau, Dortmund, München, Hamburg, Berlin – in Städten und Kreisen, in denen besonders viele der inzwischen mehr als 22 000 un- begleiteten minderjährigen Flüchtlinge leben, sind die zuständigen Jugendämter überfordert. Doch jetzt verspricht Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) Abhilfe. Ein neues Gesetz, das gestern vom Bundeskabinett auf den Weg ge- bracht worden ist, soll für eine bessere Verteilung der minderjährigen Flüchtlinge auf die gesamte Bundesrepublik sorgen und ihnen zu Zugang zu Kitas und professioneller Förderung durch Sozialarbeiter gewähren.
Über die Weiterreise an einen anderen Ort innerhalb Deutschlands soll möglichst innerhalb von zwei Wochen, aber maximal einem Monat entschieden werden. Danach soll dem jungen Menschen kein Ortswechsel mehr zugemutet werden. Durch diese Regelung soll verhindert werden, dass sich die Jugendlichen an ihren ersten Aufenthaltsort gewöhnen und sich danach auf einen neuen einstellen müssen. Die Neuregelung soll nach dem Willen Schwesigs zum 1. Januar 2016 in Kraft treten, zuvor soll es bereits freiwillige Übergangsregelungen geben.
Ortstermin in Passau: In der „XPoint-Halle“, einem umfunktionierten Veranstaltungszentrum, werden die Neuankömmlinge registriert. Die Luft ist stickig. Babys schreien. Hier auf Biergartenbänken und weißen Plastikstühlen hocken Hunderte Flüchtlinge. Sie kommen aus dem Irak, aus Syrien und Afghanistan, haben eine lange, kräftezehrende Reise hinter sich, wirken erschöpft. Endstation Sehnsucht?
„Zentrum des Wahnsinns“, steht auf einem Zettel in der „X-Point-Halle“. Vor einer Woche sind in Bayern erstmals mehr als 1000 Neuankömmlinge an einem Tag registriert worden. Tatsächlich werden die Geschleusten kaum noch erkennungsdienstlich behandelt. Längst nicht von allen werden Fingerabdrücke genommen. Dass nachts die Schleuser mit ihren Kleintransportern und bis zu fünfzig Personen – darunter auch viele Kinder und Jugendliche – kommen, stellt die Behörden in Bayerns Südosten auf die Probe. Der hiesige Landrat Franz Meyer (CSU) ist überzeugt, dass nun die Grenze erreicht ist: „Es überrollt uns.“