Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein Jahr in China
Joel Sigle aus Schlier hat für ein Jahr eine neue Heimat: die 15- Millionen- Metropole Shenzhen in der chinesischen Provinz Guangdong. Darüber berichtet der frühere SZ- Praktikant in einer Serie – heute mit dem letzten Teil. SCHLIER - Die Idylle eines deutschen Dorfes mit dem Trubel im chinesischen Großstadtleben zu wechseln oder Deutschunterricht gegen chinesischen Matheunterricht einzutauschen: in den vergangenen zehn Monaten durfte ich diese und unzählige weitere Erfahrungen machen.
Ich nahm am chinesischen Alltag teil, inklusive Klassenfahrt, Frühlingsfest und Familienurlaub in Taiwan. Vor knapp zwei Wochen ging es für mich dann wieder zurück in die beschauliche Heimat in Schlier.
Natürlich war von Anfang an klar, dass das Leben in Shenzhen nur ein Leben auf Zeit ist. Trotzdem war es sehr komisch, als es hieß, sich von den neu gewonnenen Freunden und meiner „zweiten“Familie zu verabschieden. Aber mir ist klar, dass es kein Abschied für immer ist und ich für immer einen Teil der chinesischen Kultur in mir tragen werde. Ich kann es jedem empfehlen, nach China zu gehen.
Die deutschen Medien vermitteln meistens ein Bild von China, das hauptsächlich über Wirtschaftswachstum und Umweltschutz berichtet – das ist aber nicht alles, was es zu erzählen gibt. Ich habe alle Chinesen als nette, aufgeschlossene und interessierte Menschen kennenge- lernt. Vor allem wenn man versucht, sich in der Landessprache auszudrücken, erntet man viel Anerkennung. Als Deutscher wird man als zuverlässig und fleißig charakterisiert und vor allem Küchengeräte, Autos und natürlich auch das Bier werden mit der typisch „guten“deutschen Qualität verbunden.
Unkomplizierte Grammatik Ich vermisse es jetzt schon sehr, Chinesisch zu reden. Leider weiß ich bisher noch nicht, wie ich die Fortschritte, die ich im Sprachlichen gemacht habe, beibehalten kann, aber ich denke, es wird auf jeden Fall Möglichkeiten geben, die Entfernung von über 12 000 Kilometern zu überbrücken und mit meinen chinesischen Freunden Kontakt zu halten. Nur empfehlen kann ich auf jeden Fall, sich an der fremden Sprache zu versuchen: Es scheint am Anfang zwar schwer, sich an die komplett andere Sprache zu gewöhnen, aber vor allem die Grammatik ist sehr unkompliziert.
Eine weitere sehr beeindruckende Erfahrung war für mich die Klassenfahrt, die ich mit der ganzen Klassenstufe 10 Ende Mai unternehmen durfte. Wir waren knapp 800 Schüler und fuhren insgesamt 36 Stunden Zug, um drei Tage auf dem Land zu erleben. Trotz der extrem langen Zugfahrt war die Zeit eine einschneidende Erfahrung, da die Standards auf dem chinesischen Land nicht viel mit den uns bekannten zu tun haben: Beispielsweise hatten wir kein fließend Wasser und demzufolge musste das Wasser zum Duschen erst am Herd erhitzt werden.
Am 28. Juni hieß es dann, sich von Familie, Freunden und der Kultur Chinas zu verabschieden, und über Frankfurt ging es dann zurück nach Stuttgart. Die Aufregung, nach so langer Zeit wieder deutschen Boden zu betreten, war natürlich riesig und es ist nach wie vor noch sehr komisch, dass wieder überall Deutsch gesprochen wird. Mein erster Eindruck von Deutschland war, dass auf den Straßen extrem wenig Autos sind, überall Natur ist und die Luft deutlich besser ist als in Shenzhen. Außerdem habe ich es trotz der 30 Grad als kühl empfunden, da ich durchgehend an über 35 Grad und eine extrem hohe Luftfeuchtigkeit gewöhnt war.
Wenig Autos und kühl Es ist auf jeden Fall schön, wieder in Deutschland zu sein, und ich habe mich sehr gefreut, meine Familie und Freunde wiederzusehen, aber trotzdem fühlte ich mich am Anfang sehr fremd und sehnte mich nach dem Gewöhnten der letzten Monate. Ich fiebere jetzt schon meinem nächsten Besuch in China zu und kann mir durchaus auch vorstellen, dort zu studieren oder gar zu arbeiten. Durch das Auslandsjahr habe ich aber natürlich nicht nur die Sprache und Kultur Chinas kennengelernt, sondern ich habe mich auch als Person verändert und kenne meine Stärken und Schwächen besser. Ich denke, dass ich auch in Zukunft mehr zum kulturellen Austausch zwischen verschiedenen Ländern beitragen werde.
Großer Dank gebührt meiner chinesischen Familie, die mir nur aus dem Interesse an einer anderen Kultur ein Zuhause angeboten und mich immer wie ein Teil der Familie behandelt haben. In diesem Jahr hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen kleinen Bruder und ich werde die Zeit vermissen, in der ich mit ihm gespielt habe. Wir sind im Laufe des Austauschjahres als Familie zusammengewachsen und ich werde immer glücklich an die Zeit in meiner chinesischen Familie zurückdenken.