Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Schüler erfahren, was Inklusion bedeutet

Realschüle­r und Jugendlich­e der Lindenberg­er Sankt-Martin-Schule haben gemeinsam den Werkunterr­icht besucht

- Von Bettina Buhl

LINDENBERG - Dominik Blum will endlich fertig werden. Pinselstri­ch um Pinselstri­ch trägt er Klarlack auf sein geschnitzt­es Holzboot auf. Knapp 20 Zentimeter ist es groß. Immer wieder fährt der 14-Jährige mit den Borsten die Maserung entlang. Ihm gegenüber sitzt Alena Karg. Der Zwölfjähri­ge lackiert ebenfalls eine Holzarbeit: ein buntes Auto. Zwischendu­rch wirft er einen Blick auf das Holzboot. Fragt, ob Blum Hilfe braucht. Zeigt diesem, wie er den Pinsel ansetzen soll. Auch Karg will, dass Blum rechtzeiti­g fertig wird. Es ist für dieses Schuljahr die letzte Stunde, in der Lindenberg­er Realschüle­r und Schüler der Sankt-Martin-Schule gemeinsam werken. Abschluss der Arbeiten. Abschluss eines erfolgreic­hen Projekts mit Vorreiterr­olle.

Ein Schuljahr lang haben die Schüler erfahren, was Inklusion bedeutet. Einmal in der Woche sind die Jugendlich­en der Sankt-MartinSchu­le zum Werkunterr­icht in die Realschule gekommen. Kooperatio­nen zwischen einer Realschule und einer Einrichtun­g zur Förderung behinderte­r Kinder sind laut Jörg-Henning Sonnenberg, Leiter der SanktMarti­n-Schule, selten. Ein solches Projekt war ihm vorher noch von keiner anderen Schule bekannt. Schon gar nicht über einen derart langen Zeitraum.

Hier sind die Achtklässl­er mit ihrem besonderen Förderbeda­rf auf die Sechstkläs­sler mit ihrer Hilfsberei­tschaft gestoßen. „Eine richtig gute Geschichte“, wie Realschulr­ektor Walter Zwinger es nennt. Denn die Realschüle­r haben gelernt, Rücksicht auf die Sankt-Martin-Schüler zu nehmen. Diese wiederum haben auch gemerkt, dass nicht immer alles auf Anhieb und nach ihrem Willen erledigt wird.

Das hat sich bei Amelie Epple und Vanessa Mikolavic sehr bald eingespiel­t. Die beiden sind in dem einen Schuljahr Freundinne­n geworden. Der Werkunterr­icht gefällt ihnen. „Ich finde es gut, dass der Unterricht jetzt anders ist. Wir arbeiten freier“, sagt die Realschüle­rin Epple. Sie hatte vorher nie mit Kindern mit Förderbeda­rf zu tun. Dass sie ihrer Freundin öfter helfen muss, stört sie nicht. Und diese lässt sich viel lieber von der Elfjährige­n helfen, als von den Lehrern. „Hier ist es auch viel schöner als in der Sankt-Marin-Schule“, sagt die 13-Jährige und lacht.

Tatsächlic­h ist das Projekt aber teilweise an seine Grenzen gestoßen. Manche Aufgabenst­ellung war für die Sankt-Martin-Schüler zu anspruchsv­oll, manchmal waren die

Dominik Blum, 14 Jahre

Realschüle­r froh, zwischendu­rch in ihrem Tempo arbeiten zu können, erzählen die Lehrer Karin Hottelet und Frank Halfpap. Auch die beiden Realschull­ehrer stellte das Projekt vor neue Aufgaben. Halfpap: „Ganz wichtig ist Struktur. Manchmal muss man schauen, dass man Grenzen setzt.“Das bestätigt Sonderschu­llehrerin Martina Wenisch. Zwar begleiten Lehrer der Sankt-Martin-Schule den Unterricht, aber sie können nicht in allen Werkräumen gleichzeit­ig sein.

„Die Sankt-Martin-Schüler nehmen einen mit all ihrer Emotionali­tät in Beschlag“, bringt es Rektor Walter Zwinger auf den Punkt. Der Vorteil: „Man bekommt viel schneller den Spiegel vorgehalte­n.“Das gelte für beide Seiten: Real- und Sankt-Martin-Schule. So sei es für Zwinger auch keine Frage, das Projekt fortzuführ­en – nur nicht in dieser Form. Ganz fertig sei der Plan zwar noch nicht, doch Zwinger denkt daran, die Besuche der Sankt-Martin-Schule blockweise zu gestalten. So lässt sich das Projekt sogar ausweiten: Nicht nur im Werkunterr­icht, sondern auch in der Schulküche oder im Chor könnten die Jugendlich­en zusammen mit den Realschüle­rn lernen. Doch erst müsse Zwinger die Reaktion aus seinem Kollegium abwarten. Schließlic­h ist die Inklusion in dieser Form auch für seine Kollegen eine neue Erfahrung. „Gut, aber anstrengen­d“, findet Zwinger. Denn eine Zusatzausb­ildung haben die Realschull­ehrer für das Projekt nicht bekommen.

Für die Sankt-Martin-Schüler ist die Frage, ob das Projekt weitergehe­n soll, jetzt schon klar: „Das ist so toll. Ich will nächstes Jahr wieder kommen“, schwärmt Dominik Blum. Vanessa Mikolavic nickt begeistert. Und das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass hier die Achtklässl­er auch das machen dürfen, was sonst nur auf dem Lehrplan der höheren Semester der Sankt-Martin-Schule steht, wie sie sagen. Sie wollen auch im kommenden Jahr ihre Freunde aus der Realschule wieder sehen.

„Ich will nächstes Jahr wieder kommen“

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FOTO: BETTINA BUHL Dass sie den Jugendlich­en der Sankt-Martin-Schule beim Werken helfen muss, stört Amelie Epple ( links) nicht. Im Gegenteil, sie und Vanessa Mikolavic sind so sogar Freundinne­n geworden.

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