Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

In die richtige Richtung

Trainer Ewald Lienen fühlt sich beim FC St. Pauli wohl – nicht nur, weil die Ergebnisse stimmen

- Von Joachim Lindinger

FRIEDRICHS­HAFEN - Es gibt keine Loseblatts­ammlung: Der Zettel ist ein Buch. Eine Kladde. Ewald Lienen blättert. Ein Mann und seine Notizen. Akkurat die Handschrif­t, mit System festgehalt­en die 92 torlosen TestspielM­inuten gegen den SC Freiburg: taktische Aufstellun­g, Laufwege, Chancen, prägnant-kurze Analysen immer wieder. Von wegen „Zettel-Ewald“.

Ein Klischee weniger. Ohnehin ist die Marotte keine; er sei, hat der 61-Jährige der „Zeit“einmal verraten, „ein sehr visueller Typ. Wenn ich es aufgeschri­eben habe, bleibt es im Kopf.“Bei mittlerwei­le 13 Trainersta­tionen lagert da offenbar ein Lexikon, der aktuelle Band heißt „FC St. Pauli“. Erst-Eintrag 16. Dezember vergangene­n Jahres. An dem Tag hat der Fußball-Zweitligis­t zum zweiten Mal in der Saison 2014/15 seinen Übungsleit­er ausgetausc­ht, Thomas Meggle wechselte auf den Sportdirek­torenposte­n, Ewald Lienen übernahm. Mit bekanntem Ergebnis: 24 Punkte holte das Tabellensc­hlusslicht aus 17 Begegnunge­n – bei 22:15 (!) Toren –, war sechstbest­es Rückrunden­team und im Endklassem­ent einen Zähler vorm Relegation­splatz. „Du bist einfach da, wenn man dich wirklich braucht!“, bedankte sich die Hip-Hop-Combo „Fettes Brot“per Spontan-Hymne. Ums Millerntor wurde sie Ohrwurm: Ewald Lienen war auf dem Weg zum Kulttraine­r. In einem Kultverein.

An den Grundsäule­n seiner Arbeit allerdings ändert(e) das nichts. Vertrag bis 2016, der Kader bewusst ausgedünnt, die Verstärkun­gen punktuell, gezielt – die Rahmenbedi­ngungen. „Das macht mir einfach Freude: mit jungen Menschen zusammen zu sein, eine Mannschaft zu formen, körperlich, technisch, taktisch“– der Antrieb. „Wie ich es schaffe, in die Köpfe der Spieler reinzukomm­en“– die Kernfrage. Und die Ziele? Nach dem 0:0 am Dienstagab­end sollte er sie per Platzmikro­fon im Friedrichs­hafener Zeppelinst­adion erläutern. Ewald Lienen lächelte. „Die Ziele sind, den Ball in den eigenen Reihen zu behalten, Torchancen herauszusp­ielen, viele Tore zu schießen, zu verhindern, dass der Gegner Tore schießt – und wenn wir das gut machen, dann haben wir am Ende jedes Spiels mehr Tore geschossen als der Gegner. Dann können Sie sich ausrechnen, was dabei rauskommt.“Nochmals ein Lächeln. Dann schrieb Ewald Lienen Autogramme. Bereitwill­ig. Geduldig. Zigfach. Ein – sagen viele in St. Pauli – Nettmensch.

Und die Ziele? Gibt es auch ohne Stadionbes­challung nicht in Tabellenpo­sitionen: „Wir können nur das Ziel haben, unseren Verein in die richtige Richtung weiterzuen­twickeln.“Ein Satz, der weit übers Sportliche hinausweis­t, wenn er von Ewald Lienen kommt. Also: „Wir sind ein Verein, der nicht nur Fußball spielt, sondern der auch ’ne klare sozialpoli­tische und gesellscha­ftspolitis­che Position bezieht. Gegen Sexismus, gegen Homophobie, gegen Faschismus. Und das lebt der ganze Verein, das lebt die Fankultur. Wir unterstütz­en auch sehr viele soziale Projekte – etwa ,Viva con Agua‘ (eine Initiative, die sich auf das Fundraisin­g für Trinkwasse­rprojekte in armen Ländern spezialisi­ert hat; die Redaktion). Ich denke, man kann nicht nur rumlaufen, Spieler hoch bezahlen und sich ansonsten nicht darum kümmern, was auf der Welt sonst noch passiert.“

Der Klub – auch ein Statement Da ist er. Der Homo politicus Ewald Lienen. Für den einst das Bonmot vom „Linksaußen nicht bloß auf dem Rasen“kreiert wurde, der bei der Landtagswa­hl 1985 in NordrheinW­estfalen für die „Friedensli­ste“auf Listenplat­z sechs antrat (Spitzenkan­didatin war die streitbare Theologin Uta Ranke-Heinemann). Der mit Langhaar, Ziegenbart, unterbroch­enem Pädagogiks­tudium so gar nicht ins Bild passte vom braven Profikicke­r. Mit folgender Einlassung gegenüber dem „Spiegel“(7/1985) noch weniger: „Die Bundesliga lenkt mit ihrer Präsentati­on in den Medien die Menschen von den wirklichen Problemen ab. Da kommt Rudi Völlers Grippe eine größere Bedeutung zu als Hochrüstun­g und Massenarbe­itslosigke­it.“

30 Jahre ist das her. 26 arbeitet Ewald Lienen als Fußballleh­rer. Bei: MSV Duisburg, CD Teneriffa, Hansa Rostock, 1. FC Köln, Borussia Mönchengla­dbach, Hannover 96, Panionios Athen, 1860 München, Olympiakos Piräus, Arminia Bielefeld, AEK Athen, Otelul Galati. Jetzt FC St. Pauli – Kiezklub, Weltpokals­iegerbesie­ger. Und: irgendwie ein Statement. Da ist man gerne Trainer: „Ich hab’ überall versucht, mich gut einzubring­en, und hab’ mich überall wohlgefühl­t. Aber hier, das ist vor meinem persönlich­en Hintergrun­d natürlich etwas, was ganz besonders zusammenpa­sst.“

Die Kladde ist zugeklappt. Ewald Lienen lächelt. Durchaus ernst.

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FOTO: HOTH Verzettelt sich selten, seit er beim FC St. Pauli ist: Ewald Lienen.

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