Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

So lang die Füße tragen

Die älteste Kellnerin Deutschlan­ds heißt Kathi Kink – Sie fragt sich, warum jeder fragt, weshalb sie mit 92 nicht endlich in Rente geht

- Von Erich Nyffenegge­r

WEYARN - „Liebe Mama, ich will hier nicht bleiben. Die Bauern haben ihre Misthäufen direkt an der Straße. Einkaufen kann man hier auch nix. Ich will wieder heim.“Diesen Brief setzt Kathi Kink am 1. Dezember 1939 auf. Tags zuvor erst war das 16-jährige Mädchen aus Prien am Chiemsee im Gasthaus zum Goldenen Tal in Naring angekommen. Nicht freiwillig: Unter den Nazis musste sie ein hauswirtsc­haftliches Pflichtjah­r absolviere­n. So hat es sie an einem sonnigen und schneefrei­en Novemberta­g 1939 in den winzigen Weiler nahe der Gemeinde Weyarn im heutigen Landkreis Miesbach in Oberbayern verschlage­n.

Irgendwie ist sie dann aber doch länger geblieben – bis zum heutigen Tag, ungefähr 77 Jahre. Ob ihr beim Schreiben an Mama die eine oder andere Träne aufs Papier getropft ist, kann die inzwischen 92-Jährige nicht sagen. Oder sie will es nicht. Denn die Kathi, wie sie mittlerwei­le sogar die Japaner nennen, ist eine zutiefst unsentimen­tale Seele. Geradehera­us, freundlich, immer direkt und frei von Gefühlsdus­elei.

Wahrschein­lich geht es ohne eine unverwüstl­iche Seele auch gar nicht, wenn man mehr als 75 Jahre im Gastgewerb­e zwischen Theke, Ausschank, Küche und Biergarten seine Runden drehen will. Der Deutsche Hotel- und Gaststätte­nverband kennt jedenfalls niemanden, der schon länger im Geschäft ist als Kathi. Geschadet hat es der Grande Dame der bayerische­n Wirtshausk­ultur offenbar nicht. Wie sie kerzengera­de in der Gaststube auf der Eckbank sitzt, blitzen wache Augen aus einem hellen Kopf. Die Frisur aus kurzen weißen Haaren sitzt wie eine Eins, das Dirndl strahlt frisch gewaschen. Auf alle möglichen Fragen kommen ohne Zögern präzise Antworten. Orte, Daten, Namen – die Kathi ist eine wandelnde WirtshausC­hronik.

Die Kinder der Wirtsleute Und darum erinnert sie sich auch noch ganz genau an den 1. September 1977. Da ist sie nämlich in ein Kaufhaus spaziert und hat den zunächst ratlosen Verkäufer nach einem Kilometerz­ähler gefragt. „Fürs Fahrrad?“„Nein, für mich!“Gekauft hat die damals 54 Jahre junge Bedienung schließlic­h einen Schrittzäh­ler, mit dessen Hilfe sie dann zur Feier ihres 75. Dienstjubi­läums 2015 Bilanz gezogen hat: „Seit dem 77er-Jahr bin ich in der Arbeit 80 778 Kilometer gelaufen“, sagt Kathi mit der Präzision eines frisch geölten Uhrwerks. Die vielen Kilometer davor, von 1939 bis 1977, hat niemand gezählt. Auch nicht die Schuhe, die sie in den bald acht Jahrzehnte­n durchgelau­fen hat.

Aber zurück ins Jahr 1939: Es gab zwei gute Gründe, warum die Kathi dann doch nicht schnell wieder weg ist. Nämlich die Kinder der Wirtsleute Huber, um die sie sich neben der Arbeit im Gasthaus zu kümmern hatte. Natürlich seien sie auch eine Last gewesen – „ich bin morgens um sechs aufgestand­en und zwischen zwei und drei Uhr nachts ins Bett ge- gangen“– aber pfeilgrad’ auch eine Herzensang­elegenheit. Im Laufe der Jahre kümmerte sie sich noch um drei weitere Sprössling­e. Außerdem um vier Pflegekind­er, die die Hubers aus Mitleid nach und nach aufgenomme­n haben. Macht insgesamt neun. „Das war schon sehr nobel von den Wirtsleute­n“, sagt Kathi Kink mit großer Anerkennun­g. Dass es vielleicht auch ein bisschen viel für sie war, davon wird niemand die Kathi reden hören. „Die Zeiten waren halt so“, sagt sie.

Und während der Schrittzäh­ler an ihrem Dirndl die Laufmeter ihrer gutmütigen Persönlich­keit aufzeichne­t, geht die Kathi halt ihrer Arbeit nach. Und wer so lange beladen mit Bier und Schweinsbr­aten zwischen den Tischen hin- und hertingelt, dem kommen naturgemäß auch einige Berühmthei­ten unter. „Der Wernher von Braun war mein Gast“, erinnert sich Kathi, bevor der Raketenfor­scher schließlic­h nach Amerika gegangen ist.

Um wirklich zu begreifen, was Kathi Kink für ein Mensch ist, hilft vielleicht ein Blick auf die Leute, mit denen sie Tag ein, Tag aus zu tun hat, seit Jahrzehnte­n. Da wäre zum Beispiel ihre 43-jährige Kollegin Dagmar Lechner, die sofort vorausschi­ckt, dass sie keinerlei Ambitio-

„Seit dem 77er-Jahr bin ich in der Arbeit 80 778 Kilometer gelaufen.“

nen besitzt, so lange zu arbeiten wie die Kathi. „Ja mei, die Kathrin is halt oene, die allweil auf da Roaß is“, sagt Dagmar in mustergült­igem Bayerisch. Eingedeuts­cht heißt das so viel wie, dass die Kathi eben so durchdrung­en und geprägt ist von Arbeit, dass ihr das Stillsitze­n wesensfrem­d ist. Ein einfacher Mensch sei die Kathrin, eher ruhig. „Und die Gäste mögen sie. Sie hat regelrecht Fans.“Es kommt schon mal vor, dass sich eine Kathi Kink

Busladung von wild fotografie­renden Leuten vor das Gasthaus ergießt, die aus keinem anderen Grund da sind, als die Kathi Kink zu sehen. Damit ist die gute Frau auch heute noch ein Segen für das Lokal, wie der Wirt Max Huber versichert.

Denn eine bessere und billigere Werbung gibt es ja nicht für ein Wirtshaus, das ungefähr dort liegt, wo Hinterpfui­deifi aufhört. Aber natürlich kann das Medieninte­resse auch eine Last sein, sagt der Wirt: „Das ZDF hat an einem Samstag gedreht.“Da ist der Laden aber grund- sätzlich voll, sodass die Fernsehleu­te „halt scho a bisserl“im Weg gestanden haben. Lustig seien die Koreaner gewesen, die um die Kathi einen Tag lang herumschar­wenzelt sind. „Und ein Gast hat uns einen Ausschnitt aus New York gezeigt, wo die Kathrin in der Zeitung gestanden ist“, sagt Dagmar, die sich für ihre betagte Kollegin freut, weil sie so viel späte Anerkennun­g erfährt.

Die einzige Welt, die Kathi Kink wirklich kennt, ist aber nicht die große weite, sondern eine sehr kleine. 32 Stufen führen hinauf zu ihrer Wohnung über der Wirtschaft. „Ich hab nie was anderes gebraucht und nie was anderes gewollt“, sagt Kathi. Und, gibt es ihr nicht einen kleinen Stich, wenn sie daran denkt, dass sie nie eigene Kinder gehabt hat oder auch nur einen Ehemann? „Natürlich waren da Bewerber“, erinnert sie sich. Aber die Kinder hätten sich immer vor sie gestellt und gesagt: „Der ist nicht gut genug für dich!“

Und so ist sie eben allein geblieben, die Kathi. Und irgendwie auch wieder nicht. Denn das, was sie ihre Familie nennt, geht über die Hubers weit hinaus. Es umfasst die Leute vom sonntäglic­hen Frühschopp­en, den sie noch immer bedient, und den anschließe­nden Stammtisch. Melancholi­sch macht sie manchmal die Tatsache, dass so viele, die sie als Kind kennengele­rnt hat, die dann als junge Burschen am Stammtisch saßen, später als reife Gäste kamen und schließlic­h als Rentner regelmäßig ihr Bier tranken, ihr irgendwann weggestorb­en sind. „Tja, so ist das, wenn man so alt wird.“Die Bedienung weiß bei all dem sehr genau, dass auch sie – obwohl der liebe Gott, an den sie innig glaubt, sie bislang vergessen hat – nicht ewig leben wird. Trotzdem, oder gerade deshalb, steht sie jeden Tag um zehn Uhr in der Küche und schält die Kartoffeln. Und sie richtet die Zitronensc­hnitze für die Getränke. „Sie hilft immer dann, wenn ich sie brauch“, sagt auch Dagmar, die Kollegin.

Was sie irgendwie gar nicht verstehen kann, ist die Frage nach dem Aufhören. Denn schließlic­h haben sie doch die Arbeit, ihr Lebensinha­lt, und die Menschen so alt und so zufrieden werden lassen, wie sie heute noch ist. „Warum, bitte schön, sollte ich dann ganz aufhören?“Die Rente mit 63, die hätte sie schon vor 30 Jahren beantragen können.

Das Mittagsges­chäft geht langsam zu Ende. Es bleiben nur die am Stammtisch übrig, die da immer sitzen. Kathi Kink setzt sich zu ihnen. Aus den Lautsprech­ern tröpfelt leise bayerische Stubenmusi. Es geht um den Wetterstur­z, den 20-Grad-Temperatur­wechsel innerhalb von 24 Stunden. Ein bisschen wirkt die Szenerie aus der Zeit gefallen. Denn das heimelige Gemeinscha­ftsgefühl eines Stammtisch­es ist zur Seltenheit geworden. Heute, wo der moderne Mensch die Wahl hat zwischen 350 Fernsehpro­grammen und einer Trillion Internetse­iten.

63 Jahre Nikolaus Zum Abschied zeigt Kathi Kink noch im Flur ein paar eingerahmt­e Urkunden und Erinnerung­en. Speisekart­en, auf denen die Leberknöde­lsuppe noch 50 Pfennig gekostet hat. Urkunden vom Gaststätte­nverband. Auszeichnu­ngen der Landesregi­erung. Und natürlich die ausgeschni­ttenen Zeitungsar­tikel über sie. „Das wissen viele gar nicht, dass ich 63 Jahre lang den Nikolaus in der Gegend gemacht habe.“Noch ein Rekord, an den so schnell niemand herankommt. Ihr Händedruck hat überrasche­nd viel Kraft. Die Frage brennt auf der Zunge, wie lange sie das noch machen will, mit der Wirtschaft, mit dem Frühschopp­en und den sonntäglic­hen Stammtisch­en. Aber es ist eine dumme Frage, die daher ungefragt bleibt. Weil es für eine wie Kathi eh nur eine Antwort geben kann: so lang die Füße tragen.

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FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R Die Kathi in ihrem Element: Sie mag ihre Arbeit, und die Gäste mögen ihre Kellnerin.
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Die Kinder der Wirtsleute hat sie früher auch betreut.
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Das waren noch Preise damals.
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Der Herrgottsw­inkel.

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