Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Sorgen in Berlin über möglichen Wegfall der türkischen Visumspflicht
Unionsabgeordnete warnen vor Ausweitung der irregulären Migration – Regierung in Ankara reagiert mit Unverständnis auf EU-Kritik
BERLIN/ISTANBUL - Wohin steuert die Türkei? Der Rücktritt von Ahmet Davutoglu wird in Berlin mit Sorge registriert, wurde der scheidende Regierungschef doch als Verhandlungspartner geschätzt. Mit ihm hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Flüchtlingsdeal unter Dach und Fach gebracht. Davutoglus Rückzug war ein Paukenschlag nur einen Tag nach der Grundsatzentscheidung der EU-Kommission zur Aufhebung der Visumspflicht für Türken.
Beifall auf der einen Seite, scharfe Kritik und Unverständnis auf der anderen – das Votum der EU-Kommission hat in Berlin für ein sehr unterschiedliches Echo gesorgt. Künftig sollen türkische Staatsbürger ohne Visum in die 26 EU-Staaten des Schengen-Raums reisen. Merkel hält es für möglich, dass die Türkei die wenigen verbliebenen Bedingungen für die Visumfreiheit umsetzt.
„Ich glaube, dass angesichts der Fortschritte, die die Türkei in den anderen Punkten gemacht hat, eine realistische Chance besteht, dass auch die noch offenen Punkte erfüllt wer- den“, sagte die Kanzlerin. Es bedeute einen „großen politischen Schritt“, dass die Türkei die Visumfreiheit aller EU-Bürger inklusive Zyperns zugesagt habe. Auch vor diesem Hintergrund wolle sie „jetzt keine Gefahren diskutieren“, sondern auf ein gegenseitiges Einhalten der Zusagen setzen.
In den Reihen der Opposition, aber auch bei der SPD gab es Zustimmung. Die Union ist dagegen skeptisch über die Empfehlungen aus Brüssel. Wenn die Türkei den Flücht- lingspakt nicht voll erfüllen sollte, „dann fällt auch die Visafreiheit“, erklärte Elmar Brok (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlamentes.
In den Unionsparteien gibt es Bedenken gegen die Visumfreiheit, auch weil sie zu einer Ausweitung der irregulären Migration führen könnte. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer, sieht zudem die Gefahr, dass die Visafreiheit für die Türkei nur als politische Frage und nicht als Sach- frage behandelt werde. „Es darf weiterhin keine politischen Zugeständnisse gegenüber der Türkei geben“, erklärte der CSU-Politiker.
Drohungen an Brüssel Mit einer Warnung an die Adresse der EU hat die Türkei am Donnerstag auf die Bedingungen Brüssels für den Wegfall der Visaschranken reagiert. Sein Land halte sich an seine Zusagen, sagte Außenminister Mevlüt Cavusoglu. „Auch die EU muss zu ihrem Wort stehen.“Ankara droht seit Monaten, die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland zu stoppen, falls die Visaschranken nicht, wie zugesagt, im Juni fallen.
Cavusoglu betonte, sein Land habe die meisten der insgesamt 72 Kriterien der EU für die Abschaffung der Reisebeschränkungen inzwischen erfüllt. Es gebe nur noch „kleinere Mängel“, die in nächster Zeit beseitigt werden würden. EU-Kommissionsvize Frans Timmermans hatte die Türkei zuvor aufgefordert, bis Juni Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung und eine Reform der Antiterror-Gesetze einzuleiten sowie die biometrischen Pässe technisch zu verbessern. Nach vergeblichem Bitten und Mahnen will die EU- Kommission die Flüchtlingsverteilung in der EU nun erzwingen. Brüssel schlug am Mittwoch eine „ automatische“Verteilung von Flüchtlingen vor, um belasteten Ankunftsländern zu helfen. Die Kommission will einen „ Fairness- Mechanismus“einführen. Er soll automatisch aktiviert werden, wenn die Zahl der Asylbewerber in einem Land eine festgelegte Schwelle im Verhältnis zur Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft übersteigt. Dann sollen darüber hinausgehende Asylbewerber auf die anderen Mitgliedstaaten nach einem festen Schlüssel verteilt werden. Aufnahmeverweigerer können jeweils für die Dauer eines Jahres eine Ausnahme beantragen. Sie müssen aber ein „ Strafgeld“von 250 000 Euro pro Asylbewerber zahlen, den sie nicht aufnehmen. ( AFP)