Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)
Ein bisschen Unfrieden
Der Eurovision Song Contest bietet auch eine Bühne für politische Statements – Ärger um Lied der ukrainischen Teilnehmerin
KIEW/MOSKAU (dpa) - Der Eurovision Song Contest, der nächste Woche in Schweden stattfindet, ist seit jeher auch Schauplatz politischer Konfrontationen. Nun schickt die Ukraine eine Krimtatarin nach Stockholm – und bringt damit russische Politiker gegen sie auf. Ist das Lied der Sängerin Jamala ein Seitenhieb gegen Russlands Präsident Wladimir Putin?
Tatsächlich rührt der Song mit dem Titel „1944“an alten Wunden. Es ist das Jahr, in dem Tausende Krimtataren während der Herrschaft von Diktator Josef Stalin nach Zentralasien deportiert wurden. Erst Jahrzehnte später durften die Krimtataren in ihre alte Heimat zurückkehren. Die noch in Zentralasien geborene Jamala erzählt in ihrem selbst komponierten Lied auf Krimtatarisch und Englisch die Geschichte ihrer Urgroßmutter.
Dabei erwähnt Jamala weder Stalin noch die Krimtataren. Doch die Zeilen „Ich konnte meine Heimat nicht haben“und der Refrain „Ihr habt meinen Frieden geraubt“könnten auf das Schicksal hindeuten. Viele Krimtataren haben sich gegen die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland 2014 gewehrt. Seitdem wurden Dutzende Aktivisten verhaftet und einge- schüchtert, Zeitungen und Fernsehsender wurden verboten, zahlreiche Familien sind ins ukrainische Kernland geflohen. Jamalas Familie lebt weiterhin auf der Krim, seit mehr als zwei Jahren hat die Sängerin ihre Verwandten nicht mehr gesehen. „Die Krimtataren leben heute wieder in einem besetztem Gebiet, es ist nicht leicht für sie“, betont Jamala.
Viele Russen fühlen sich von dem musikalischen Beitrag provoziert - jedoch nicht, weil er ein dunkles Kapitel der sowjetischen Geschichte thematisiert. Er spiele eindeutig auf die Entwicklungen auf der Krim an, sagen russische Politiker.
Wenn die Ukraine schon mit einem politischem Inhalt auftreten will, dann sollte sie ihre eigenen aktuellen Probleme besingen, sagt etwa der kremltreue Duma-Abgeordnete Robert Schlegel: „Ein Lied über Korruption oder politische Unterdrückung in Kiew könnte auch erfolgreich sein.“Jamalas Lied verfolge nur ein Ziel, nämlich „Russland zu verletzen“, sagt der Politiker Wadim Dengin. Der Kreml selbst schweigt bislang zu dem Beitrag.
Die Sängerin sieht die russische Reaktion gelassen. Immerhin habe sie vor dem Eurovision Song Contest weltweites Interesse geweckt. „Wenn sie ruhig reagiert hätten, hätte die Welt dem wahrscheinlich nicht eine solche Bedeutung zugemessen“, sagt sie nach ihrer Nominierung der ukrainischen „Komsomolskaja Prawda“. Die Diskussion würde das Interesse am Schicksal der Krimtataren zusätzlich stärken.
ESC-Jury hat strenge Regeln Eine politische Botschaft bestreitet die Sängerin dennoch vehement. Das Lied würde lediglich an die Zeit in Zentralasien erinnern. „Jedes Mal, wenn wir uns an den Tisch gesetzt haben, erinnerte Großvater an die Deportation, sprach davon, wie sie kein Brot hatten“, sagt die Sängerin der russischen Webseite „OpenRussia“.
Die ESC-Jury sieht in dem Beitrag keinen Regelverstoß, die 32-Jährige darf in Stockholm wie geplant auf die Bühne. Weder Titel noch Text seien politisch, urteilte die Europäische ANZEIGE Rundfunkunion in Genf. Und die Regeln der Jury sind streng, selten durften Länder mit eindeutigen politischen Botschaften auf die Bühne.
2009 sorgte Georgien mit dem Lied „We don't wanna Put In“für Aufsehen. Ein Jahr nach dem Krieg mit Russland kritisierten die Sänger darin die Politik Putins. Russland, damals Gastgeberland des ESC, reagierte erbost. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete den Protestsong als „Rowdytum“. In der Folge lehnte die Jury den Beitrag ab.
Die Georgier wollten den Text allerdings nicht abmildern und reisten erst gar nicht an. 2011 bekam Weißrussland einen Rüffel: Sängerin Anastasija Winnikowa lobte in ihrem Beitrag die Sowjet-Zeit und durfte nur mit der abgeschwächten Version „I Love Belarus“antreten und schied im Semifinale aus. Die ukrainische Sängerin Jamala will weder als Heldin für die Ukraine, noch als Feindin Russlands gelten. Für keine der beiden Seiten wolle sie sich instrumentalisieren lassen.
Deutschland tritt am 14. Mai beim Eurovision Song Contest mit der Sängerin Jamie-Lee Kriewitz und dem Song „Ghost“an. Zweimal konnten in der ESC-Geschichte deutsche Teilnehmer gewinnen: 2010 holte Lena Meyer-Landrut mit „Satellite“den Titel, 1982 gewann die Sängerin Nicole mit dem Lied „Ein bißchen Frieden“.