Schwäbische Zeitung (Ravensburg / Weingarten)

Ein Argentinie­r klagt Europa an

- Von Klaus Nachbaur k. nachbaur@ schwaebisc­he. de

Wer sich einen Arzt auswählt, von dem er weiß, dass bei jedem Besuch eine Rüge wegen schlechten Lebenswand­els fällig ist anstelle von Beruhigung­spillen, der hat einen leichten Hang zum Masochismu­s. Diesen Hang muss man eigentlich auch all den europäisch­en Spitzenpol­itikern attestiere­n, die am Freitag zur Vergabe des Karlspreis­es an Papst Franziskus nach Rom gepilgert sind. Sie wussten, dass dieser Heilige Vater in der Vergangenh­eit keine Gelegenhei­t ausgelasse­n hat, ihnen die Leviten zu lesen. Sie wussten, dass er auch diesmal Wiederholu­ngstäter sein würde. Gekommen sind sie dennoch – oder gerade deswegen.

Denn möglicherw­eise tut es bisweilen gut zu hören, wie es sein könnte, wenn es so liefe, wie es laufen sollte. Der Argentinie­r auf dem Stuhl Petri scheint die europäisch­en Grundwerte tatsächlic­h stärker verinnerli­cht zu haben als jeder europäisch­e Politiker an den Schalthebe­ln der Macht. Vielleicht musste jemand „vom anderen Ende der Welt“kommen, um den Europäern ihre Krankheite­n zu diagnostiz­ieren. Nur in dieser schonungsl­osen Diagnose des Papstes gründet die Auszeichnu­ng mit dem Preis, der ursprüngli­ch Verdienste um die Einigung Europas würdigen sollte. Aber – um im Bild zu bleiben – ohne Diagnose gibt es keine Chance auf wirkungsvo­lle Behandlung, und in diesem Sinne hat Franziskus sich Meriten verdient. Seine Botschaft ist einfach. Europas Grundwerte sind zutiefst christlich­e, und wenn sich die Europäer dieser Werte besinnen, können sie gemeinsam auch die Migrations­probleme lösen. Ein auf seinen Grundwerte­n basierende­s Europa könnte gelassen sein, bräuchte keine Angst vor Überfremdu­ng und Islamisier­ung zu haben. Nebenbei: Der deutsche Kardinal Walter Kasper hat am Freitag in seiner Predigt Fremdenhas­s als „Todsünde“eingestuft.

Es spricht dennoch wenig dafür, dass aus dem Wunschbild und den Hoffnungen des Papstes in absehbarer Zeit Realität werden kann. Die Politiker werden weiter ihre Realpoliti­k betreiben – bestenfall­s mit schlechtem Gewissen.

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